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Die Glücksparade

Die Glücksparade

Titel: Die Glücksparade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Martin Widmann
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Blumenkästen auf der Terrasse steckte mindestens ein Dutzend, und von jedem Besuch brachte ich eine Handvoll dieser Vögel mit, wenn auch nur solche, die einen kleinen Fehler hatten. Immer wenn wir aus dem Keller nach oben kamen, fragte meine Oma, wie viele Vögel wir geschafft hätten, aber während sie fragte, schaute sie nicht vom Fernseher oder der Zeitschrift auf, und egal, welche Zahl ich nannte, sie sagte, das sei ja toll.
    «Was macht die Schule?», fragte mein Opa meistens, während er sägte, und ich erzählte dann Dinge, von denen ich glaubte, sie könnten ihn interessieren. Aus der Kunststunde, wenn wir etwas gebastelt hatten, und von guten Noten, die ich bekommen hatte. Aber ihm war anzumerken, dass er nicht richtig bei der Sache war, sondern abwartete und nickte, bis ich fertig war, um zuletzt mit den Schultern zu zucken und seine zweite Frage zu stellen:
    «Wie steht es zu Hause?»
    An diesem Nachmittag kam mein Vater selbst in die Werkstatt. Seine Schritte klangen dumpf auf den Stufen, die nach unten führten.
    «Wir fahren gleich», sagte er.
    «Warum?», fragte ich.
    «Weil es sein muss», sagte mein Vater.
    «Ich komme hoch», sagte mein Opa.
    Ich war erschrocken über die Grobheit in seiner Stimme, und gleichzeitig fiel mir auf, dass die Haut in seinem Nacken seltsam orange aussah, wie eine Karotte, obwohl das nichts mit seiner Stimme zu tun haben konnte.
    Er legte seine Säge auf die Werkbank und suchte einen Moment lang unentschlossen mit den Augen zwischen seinen Werkzeugen und Holzvögeln nach etwas. Schließlich nahm er ein Stück feines Glaspapier von einem Haufen mit Blättern, faltete es um einen Korkblock und reichte es mir. Der Klotz wog fast nichts.
    «Willst du damit noch ein bisschen weitermachen, während dein Vater und ich oben sind?», fragte er.
    Ich schaute zwischen den Gesichtern der beiden hin und her. Beide sahen aus, als bissen sie auf etwas Festes.
    «Es ist besser, wenn wir sofort aufbrechen», sagte mein Vater.
    «Was soll die Eile?», fragte mein Opa mit dieser fremden Stimme, und auch wenn ich das damals nicht verstand, lag etwas darin, das nicht dafür bestimmt war, von anderen gehört zu werden.
    Mein Vater reagierte mit einer wortlosen Geste, mit einem Handkantenschlag durchschnitt er die Luft, drehte sich um, und mein Opa folgte ihm aus der Werkstatt. Die Tür, die er erst hinter sich geschlossen hatte, öffnete er im nächsten Augenblick wieder einen Spaltbreit. Ich blieb an der riesigen Werkbank stehen und schliff so lange an den Kanten des Vogels, bis sie völlig rund waren, runder als alle anderen, die ich bis dahin bearbeitet hatte, und schließlich kam mein Vater zurück, meinen blauen Skianorak über dem Arm. Er breitete die Jacke aus und hielt sie auf, als wollte er mich damit einfangen.
    Als mein Opa ein halbes Jahr später einen Herzinfarkt hatte und starb, nahm meine Mutter mich mit zur Beerdigung, doch mein Vater begleitete uns nicht. Den Ton, der an diesem letzten Nachmittag im Keller in ihren Stimmen gewesen war, habe ich seitdem oft gehört in den Stimmen erwachsener Männer, auf Parkplätzen, durch Gartenzäune und aus geöffneten Fenstern, und jedes Mal dachte ich, dass ich gerade etwas hörte, das lange Zeit zurücklag.
    Jetzt, während wir an der letzten Tankstelle vorbei auf die Landstraße fuhren, sah ich das blau-weiße Leuchtschild und die verblichenen Wimpel, die an einer Schnur über einem halben Dutzend Gebrauchtwagen flatterten, und gleichzeitig konnte ich meine Oma in einem Krankenhausbett mit weißen Laken sitzen sehen. Ihr Knie war bandagiert und auf dem schwenkbaren Nachttisch lagen mehrere Illustrierte. Ich sah meine Mutter daneben sitzen, und das beruhigte mich mehr, als ich erwartet hatte.

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    [24]
    Der Container hatte sich verändert, seit wir eingezogen waren. Er war weniger dreckig und verstaubt als beim ersten Besuch, und natürlich war mehr Zeug drin, als eigentlich reinpasste. Aber das war nicht alles. Zu Anfang hatte vieles durcheinandergelegen, und man war ständig irgendwo angestoßen, weil so wenig Platz war. Das passierte jetzt nicht mehr so oft, denn wir hatten ein Gefühl für die Räume bekommen und fanden uns selbst im Dunkeln zurecht. In der ersten Zeit war es drinnen eng gewesen und unaufgeräumt und neu. Jetzt war es nur noch eng.
    Ich ging in mein Zimmer, legte mich aufs Bett, schloss die Augen und versuchte, an nichts zu denken. Zwei- oder dreimal war ich kurz davor einzuschlafen, und in

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