Die Glücksparade
gedrückt haben musste, und das gab mir den Rest.
«Scheiße», sagte ich.
Dann fing ich an zu weinen. Die Tränen fühlten sich warm an auf der Haut, und ich wischte sie nicht ab, deshalb legte sich ein Schleier vor alles, was ich sah. Manchmal spiegelten sich die Dinge, als wären sie zweimal da. Die Laterne rückte weit weg und strahlte in vier Richtungen, wie ein Stern in einer Glaskugel. Aber ich konnte nicht still stehen. Ich ging ein Stück von ihm weg, aus dem Lichtkegel, in dem die Schneeflocken wirbelten, ins Halbdunkel, und da sah ich das Auto. Es war die Böschung runtergerutscht und stand dort unten merkwürdig schief. Das Heck ragte in die Höhe. Auf dieser Seite des Flusses war das Ufer befestigt, die Straße lag drei oder vier Meter über dem Wasser, und links und rechts der Brücke fiel eine gemauerte Böschung steil ab. Wo sie endete, verlief ein Wall aus losen Steinen. Der Wall hatte den Wagen kurz vor dem Wasser gestoppt.
«Heute hab ich es wirklich versaut», sagte mein Vater nach ein paar Minuten. «Es tut mir leid. Ich muss ins Krankenhaus, und die werden die Polizei rufen, wenn ich es nicht selber tue.»
Ich schluckte den salzigen Rotz, der mir in den Rachen lief, hinunter und fragte: «Hast du was getrunken?»
«Nicht viel», sagte er. «Ich meine, ich bin nicht betrunken, und ich war’s auch nicht. Das kannst du mir glauben. Aber nach dem, was heute Abend gelaufen ist, konnte ich nicht einfach zurück nach Hause fahren.»
Ich sagte nichts. Er hustete, und es klang, als riebe jemand trockenes Brot zu kleinen Bröseln.
«Wenn die merken, dass ich getrunken habe, kassieren sie meinen Führerschein», sagte er. «Wir müssen warten, bis ich nicht mehr so viel Alkohol im Blut hab. Dann ruf ich einen Krankenwagen. Ich werde sagen, der Unfall ist gerade erst passiert.»
Etwas in seinem Gesicht lenkte mich ab, nicht nur das Blut, das schon geronnen war und seinen Bart verklebte. Seine Haut wirkte fahl, wie aus Wachs. Ich wusste nicht, ob das, was er vorschlug, irgendeinen Sinn hatte.
«Wie ist das denn passiert?», fragte ich.
Er stützte sich auf den anderen Arm, verzog dabei den Mund. Er versuchte, sein Gewicht zu verlagern, und ich versuchte, ihm dabei zu helfen.
«Blitzeis», sagte er. «Es war plötzlich da, ganz ohne Vorwarnung. Ich konnte nicht lenken und nicht mehr bremsen, als ich auf die Brücke kam. Ich hab mir auf die Zunge gebissen. Und mein Fuß …» Er zog sein linkes Hosenbein nach oben bis knapp unters Knie. Sein Knöchel steckte in einem Arbeitsschuh, darüber ragte ein grauer Sockenrand. Das Schienbein war blaurot wie eine Pflaume, darauf waren drei aufgerissene Striemen, in denen Blut schimmerte. Ich atmete tief durch.
«Es ist viel zu kalt, um hier draußen rumzuliegen», sagte ich dann. «Außerdem schneit es.» Die Flocken auf meinen Haaren hatten ein fühlbares Gewicht. Ich schüttelte den Kopf und rieb mit den Fingern darüber.
«Im Kofferraum ist die Wolldecke», sagte er. «Kannst du runterklettern und sie raufholen?»
Ich versprach, es zu versuchen. Vorn an der Böschung ging ich in die Hocke, stützte meine Hände auf den Boden und schob Füße und Hintern über die Kante. So kroch ich die Schräge hinunter bis ans Heck des Wagens. Ich drückte den Knopf der Kofferraumklappe, sie war unverschlossen, und das war ein Glück. Die Klappe sprang auf und gähnte mich an. Alles, was im Kofferraum lag, war nach vorn gerutscht, und als ich mich hineinlehnte, senkte sich das Auto unter meinem Gewicht. Die Decke war um das Radkreuz gewickelt. Sie fühlte sich schwer an, als ich sie herausnahm.
Meine Handflächen waren so kalt, dass der Schnee darunter nicht mehr schmolz, nur als ich mir den Nagel meines linken Mittelfingers an einem Stein umbog, durchfuhr mich ein heißes Stechen. Eine halbe Minute lehnte ich, ohne mich festzuhalten, an der Schräge und drückte mit dem Daumen der Rechten auf den schmerzenden Nagel, ehe ich ganz nach oben kletterte.
«Kannst du es noch aushalten?», fragte mein Vater, nachdem er sich die Decke um die Beine gewickelt hatte und wir eine ganze Weile geschwiegen hatten. Er lag da, und ich stand dabei, die Hände tief in die Hosentaschen geschoben, während die Flocken auf meine Schultern rieselten.
«Ich friere», sagte ich.
«Natürlich», sagte er. «Willst du gehen?»
«Nein», sagte ich.
«Meinst du, die merken, dass was nicht stimmt?»
«Warum?»
«Wegen den Spuren im Schnee. Der verdammte Schnee. Ich kann gar nicht mehr
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