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Die Glücksparade

Die Glücksparade

Titel: Die Glücksparade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Martin Widmann
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kaum glauben. «Mein Vater ist der Verwalter hier.»
    «Bist du allein?»
    «Ja», sagte ich.
    «Warum bist du nicht in der Schule?»
    «Ich bin krank.»
    «Und wo sind deine Eltern?»
    «In der Stadt. Sie besorgen Medizin.»
    «Weißt du, wann sie zurückkommen?» Der Zweite hatte immer noch nicht gesprochen. In diesem Moment war ich mir sicher, dass der, der redete, auch Klaus hieß, und das machte die ganze Situation noch unwirklicher. Seit die Tür offen war, stieg mir kalte Luft in die Nase, deshalb drückte ich sie mit den Fingern so fest zu, dass es wehtat. Ich wollte den beiden nicht auch noch ins Gesicht niesen.
    «Nein», sagte ich schließlich.
    «Du weißt nicht, wie lange sie weg sind?»
    «Nein», sagte ich wieder, mit zugehaltener Nase.
    «Wie heißt du?»
    «Simon», sagte ich, und aus irgendeinem Grund sprach ich meinen Namen so aus wie in Simon & Garfunkel.
    Jetzt lachte er.
    «Hast du einen Ausweis, den du uns mal zeigen kannst?»
    «Ja», sagte ich. Ich stellte mir vor, von der Treppe zu springen und davonzulaufen. Ich würde einen Satz machen, mich unter dem zupackenden Arm des Polizisten mit der Taschenlampe wegducken und rennen.
    «Darf ich wissen, was los ist?», sagte ich.
    «Wir haben einen Anruf bekommen, dass hier eine verdächtige Person gesehen worden ist.»
    «Von wem?»
    «Holst du bitte mal deinen Ausweis», sagte er, statt mir auf meine Frage zu antworten.
    «Ja», sagte ich. «Aber hier ist niemand.»
    «Deinen
Ausweis
», sagte jetzt der, der bislang stumm gewesen war.
    Ich dachte an meine Rechte und all das, was die Leute in Filmen immer sagten, und daran, dass die beiden mich die ganze Zeit duzten, obwohl sie nicht wissen konnten, wie alt ich war. Dann holte ich das Portemonnaie aus meiner Jeans, nahm meinen Schülerausweis heraus und reichte ihn den Polizisten. Der, von dem ich gedacht hatte, er heiße Klaus, nahm ihn mir ab.
    «Hast du keinen Personalausweis?»
    «Nein», sagte ich.
    «Warum nicht? In Deutschland herrscht Ausweispflicht, das weißt du doch, oder?»
    «Ja», sagte ich. «Mir ist mein Portemonnaie gestohlen worden.»
    Jetzt hatte ich wirklich gelogen, aber ich merkte keinen Unterschied. Es kam ganz automatisch, und ich konnte sogar glauben, was ich gesagt hatte.
    «Das ist schlecht», sagte er. Er gab mir den Ausweis zurück. «Kümmere dich darum, dass du einen neuen bekommst», sagte er. «Wir könnten dich sonst zur Feststellung der Personalien mitnehmen.» Er schaute mich mit einem Blick an, der mir wohl deutlich machen sollte, dass es ihm ernst war.
    Ich schwieg.
    «Ist das klar?», fragte er.
    «Ja», sagte ich.
    Er nickte. Der andere hatte sich umgedreht, er beugte sich zur Seite und betrachtete den Hundezwinger, er leuchtete sogar hinein.
    «Na gut», sagte er dann. «Dann weißt du jetzt Bescheid.»
    «Ja», sagte ich wieder.
    Er bewegte den Kopf nach links und rechts und schaute an meinen Schultern vorbei ins Innere. Ich wich einen Schritt zurück.
    «Wird sicher ganz schön kalt hier draußen, im Winter, oder?», sagte er.
    «Wahrscheinlich», sagte ich.
    «Na ja, wird schon gehen», sagte er. «Salü.»
    Im Davongehen zog der andere, der nicht Klaus hieß, ein Handy aus einer Brusttasche. Er wählte, hielt sich das Gerät ans Ohr, nahm es kurz darauf wieder weg, wählte noch einmal, und dann sah ich ihn nicht länger.
    Ich setzte mich an den Tisch und tat erst mal gar nichts, fast zwanzig Minuten lang wartete ich darauf, dass sie zurückkommen würden. Dann zog ich meine normalen Sachen und Schuhe an. Ich band mir meinen Schal um den Hals und stopfte die Enden unter den Reißverschluss meiner Jacke, außerdem setzte ich eine Mütze auf. So eingehüllt, ging ich nach draußen und zu den Schaustellerwagen. Zwischen dem Pilz und einem Wagen ohne Aufschrift war ein breiter Abstand, dort ragten zwei Anhängerkupplungen einander entgegen wie Dreiecke auf einem Backgammonbrett. Ich stieg darüber, zwischen die Wagen und auf das Dach mit dem Lampenmast. Oben fühlte ich mich wie auf dem Sprungturm im Schwimmbad, und dabei hatte ich die Stimme des Polizisten im Ohr, der mich fragte, was ich hier verloren hätte.
Ich genieße die Aussicht
, dachte ich. Ich genieße die Aussicht.
    Der Parkplatz war leer, die Pappeln beinahe kahl, die Schubkarre lag noch immer auf dem Grashaufen neben dem Gastank, und mein Fahrrad lehnte am Schuppen, in den ich inzwischen auch den Liegestuhl gebracht hatte. Es gab keine Sonne und keinen Schatten, und nichts bewegte sich, außer

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