Die Glücksparade
Zeit rückten Stühle, die Klospülung rauschte zweimal. Die Schritte meiner Mutter waren noch länger zu hören als die meines Vaters. Ich lag auf dem Rücken, lauschte und schaute ins Dunkel. Irgendwann schloss ich die Augen, aber bis zum Morgen schlief ich nicht wieder ein. Ich lag noch wach, als mein Vater um kurz nach halb sieben ins Zimmer kam, um mich zu wecken. Er sagte, meine Mutter fühle sich nicht wohl. Also würde er mich zur Schule fahren, und am Nachmittag holte er mich ab. Die Stunden dazwischen vergingen schneller als sonst, vielleicht weil ich mir wünschte, sie würden andauern. Ich spürte, dass wirklich etwas nicht in Ordnung war, kaum dass ich meinen Vater im Auto hinter den beschlagenen Scheiben sitzen sah. Er trug ein kariertes Holzfällerhemd, hielt das Lenkrad mit beiden Händen ganz oben, die Unterarme dagegengestützt, und schaute geradeaus durch die Frontscheibe, auf der er, wahrscheinlich mit dem Ärmel seines Hemds, einen klaren Fleck in den Dunst gewischt hatte.
Ich klopfte an die Beifahrertür, er langte über den Sitz, um mir zu öffnen, und wir fuhren los. An der ersten Ampel erzählte er mir, meine Mutter sei für ein paar Tage zu ihrer eigenen Mutter gefahren. Er habe sie eben hingebracht. Er sagte auch, meiner Oma ginge es nicht so gut und dass das der Grund wäre.
«Was hat sie denn?», fragte ich.
«Es ist irgendwas mit ihrem Knie», sagte er. «Vielleicht muss sie ins Krankenhaus für eine Operation.»
Ich nickte, und obwohl ich wusste, dass das, was er mir erzählte, nicht stimmte und dass er sich schämte, mir die Wahrheit zu sagen, merkte ich, dass die Geschichte mit dem Knie eine gute Alternative war, für den Moment zumindest, denn ich konnte mir vorstellen, sie wäre tatsächlich passiert. Meine Oma würde angerufen, mein Vater abgenommen, den Hörer stumm an meine Mutter weitergereicht haben und dann nach draußen gegangen sein. Sie könne nur so schwer gehen, würde meine Oma gesagt haben. So war es schon immer gewesen, auch als wir sie noch gemeinsam besucht hatten.
Auf die Fahrten zu meinen Großeltern hatte ich mich nie besonders gefreut, denn ich wusste, schon bevor wir losfuhren, dass mein Vater und meine Mutter unterwegs schlecht gelaunt sein würden. Sie saßen im Auto und schwiegen oder stellten Fragen, auf die sie die Antworten ohnehin schon kannten. Mein Vater gab meinem Opa die Schuld daran. Auch noch nachdem mein Opa gestorben war, sagte er häufig, der alte Tischler habe ihn nie gemocht und dass es unmöglich gewesen sei, daran etwas zu ändern. So nannte er ihn,
der alte Tischler
, denn bis zu dem Jahr, in dem ich in die Schule kam, hatte mein Opa eine eigene Tischlerei gehabt, die zuletzt aber so wenig abwarf, dass er beschloss, seine Maschinen zu verkaufen und sich früher zur Ruhe zu setzen als ursprünglich geplant.
Darüber, sagte mein Vater, komme er einfach nicht hinweg. Meine Mutter widersprach jedes Mal, doch mein Vater ließ das nicht gelten.
«Dass einer einen anderen nicht leiden kann, das kommt vor», sagte er dann. «Auch unter Verwandten. Aber eigentlich sollte man doch annehmen, dass er trotzdem nicht darauf aus ist, den Rest der Familie da hineinzuziehen.»
Meine Großeltern lebten in einem Bungalow mit einer breiten Glasschiebetür auf der Rückseite, die auf eine braun geflieste Terrasse führte. Immer wenn wir ins Haus kamen, saß meine Oma im Sessel vor dem Fernseher. Ihr rechtes Bein lag auf dem gepolsterten Fußteil, und sie schaute abwechselnd in eine Illustrierte und zum Bildschirm. Im Sommer saß sie bei geöffneter Tür in ihrem Sessel, im Winter war die Tür geschlossen.
Das letzte Mal, dass wir sie zusammen besuchten, war im Frühjahr vor sieben Jahren, als mein Opa noch lebte. Er verbrachte die meiste Zeit im Keller, wo er an einer riesigen Werkbank stand und Vögel aus Holz aussägte. An diesem Samstag im Frühjahr ging ich zu ihm nach unten, wie ich es immer tat, und schaute ihm zu. Er hatte mehrere Schablonen, die er auf eine Sperrholzplatte legte und nachzeichnete. Anschließend sägte er die Umrisse aus und gab sie mir, damit ich die Kanten mit Schleifpapier abrundete. Die fertigen Holzvögel würde er weiß anmalen und ihre Schnäbel rot und sie an Drahtstäbe stecken. Er verkaufe sie an Blumenläden, sagte er. Ob das stimmte, weiß ich nicht, und als ich meine Mutter einmal danach fragte, wusste sie es auch nicht.
Neben der Werkbank standen mehrere Kartons mit fertigen Enten, Gänsen und Küken, auch in den
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