Die Glut des Bösen: Kriminalroman (German Edition)
ungleichen Türmen gesäumt. Der südliche Turm endete in einem Turmhelm, der andere in einem Pultdach. Am Fuß des Nordturms entdeckte Emma die schmale Seitentür. Sie widerstand dem Impuls, sich umzusehen. Wenn sie keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte, war es am besten, wenn sie zielstrebig darauf zusteuerte.
Die Tür war offen. Emma tauchte ein in das Dämmerlicht der Kirche und stand in einem kleinen Vorraum. Sie versuchte sich an den Grundriss auf dem Faltplan zu erinnern. Fünf abgetretene, blank gescheuerte Treppenstufen führten nach unten in einen dunklen Gang, der in der Krypta unterhalb der Apsis endete. Dort sollte angeblich früher der Zugang zu dem alten Geheimgang unter der Nahe gewesen sein. Rechts von ihr zweigte ein schmaler Gang ab zum Altarraum. Sie tastete sich über den Boden, spürte einen unregelmäßigen Steinboden unter den Füßen, klaffende Fugen, eine kleine Mulde. Dann hatte sie den Aufgang gefunden, eine schmale Wendeltreppe. Am Ende der Stufen erahnte sie einen Lichtschimmer. Mit ein bisschen Glück wurde der Gang nicht durch eine Tür verschlossen. Emma tastete sich langsam die Stufen nach oben. Sie hörte mehrere Stimmen, konnte schließlich einen hellen Tenor unterscheiden, der den Ton angab.
»Sie ist also im Laufe mehrerer Stunden allmählich verblutet?«
»Das habe ich Ihnen doch schon erklärt«, erwiderte eine ungeduldige Frauenstimme und fügte mit einem mehr als spöttischen Unterton hinzu, »Kriminalhauptkommissar Grieser.«
»Dann erklären Sie mir es eben noch einmal«, sagte die Männerstimme ohne eine Spur von Ärger.
Emma schob sich die letzten beiden Stufen nach oben. Ein schmaler Männerkopf geriet in ihr Blickfeld, das schwarze Stoppelhaar endete in einem sauber ausrasierten Halbrund. Emma sah nur Nacken und Schultern deutlich, der Rest blieb halb verborgen durch einen gläsernen Schaukasten mit einer goldenen Truhe darin. Neben ihm stand eine schmale Frauengestalt in weißem Overall und einer schweren Tasche in der Hand.
»Die Frau wurde vermutlich mit einem Elektroschocker betäubt und anschließend gefesselt«, erklärte sie, »dann wurde ihr das Genital weggeschnitten, und in Folge davon ist sie verblutet.«
Sie stellte die Tasche neben sich ab und streifte ihre Einmalhandschuhe ab.
»Die Leichenstarre ist eingetreten, und es sind keine Leichenflecken zu sehen«, fuhr die Frau fort und zog die Handschuhe zusammen. »Als die Leiche auf dem Altar abgelegt wurde, war sie bereits vollständig ausgeblutet und vermutlich schon mehrere Stunden tot.«
Emma hörte ein ungeduldiges Hüsteln aus Richtung des Kirchenportals. Vermutlich die Angestellten des Bestattungsunternehmens. Mehrere Menschen in weißen Overalls bewegten sich in der Kirche, fast ohne Geräusche zu machen. An der Rückwand der Apsis hing ein großes hölzernes Kreuz. Die Jesusfigur war mit einem violetten Tuch verhängt. Einekameraähnliche Apparatur auf einem Dreibein scannte den Altarraum.
»Und warum ist kein Blut zu sehen?«, erklang erneut die Männerstimme.
»Keine Ahnung. Wasser vermutlich. Jemand hat sie gewaschen, bevor sie hier abgelegt wurde.«
Emma überlegte, ob sie es wagen konnte, sich ein wenig zur Seite zu schieben, um den Altar ins Blickfeld zu bekommen. Doch dann würde sie den Kasten hinter sich lassen, der ihr Deckung bot. Emma begriff, dass sie hinter dem Reliquienschrein Hildegards von Bingen stand, einem kunstvoll gefertigten und vergoldeten Kasten in Form eines Gebäudes, der auf Brusthöhe in einem gläsernen Schaukasten ruhte.
Die Frau bückte sich nach ihrer Tasche und gab den Blick auf den Altar frei. Durch den Schaukasten konnte Emma die Umrisse einer Frauengestalt erkennen, die auf der langgestreckten Steinplatte lag. Ihre langen dunkelbraunen Haare waren wie ein Heiligenschein um ihren Kopf angeordnet, die Hände auf ihrer Brust gefaltet. Sie war nackt, ihre Haut makellos weiß. Emma spürte, wie ihr Herz schneller pumpte und Panik in ihr aufstieg.
Reflexartig hob sie die Rechte über den Schaukasten und drückte auf den Auslöser. Im selben Moment richtete sich die Frau vor ihr auf und verdeckte erneut die Sicht auf den Altar. Als die Kamera mit einem hörbaren Piepsen die Aufnahme auslöste, war auf dem Display nur ein dunkler Schatten zu erkennen. Entsetzt bemerkte Emma, wie ein Ruck durch die Gestalt des Mannes ging. Mit einem unterdrückten Fluch duckte sie sich. Von seinem Standpunkt aus musste ihm der Reliquienschrein die Sicht versperren. Emma
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