Die Glut des Bösen: Kriminalroman (German Edition)
Schwester Lioba entschieden. »Es war nur eine Frage der Zeit, bis Thomas klar werden würde, woher ihm Gefahr drohte. Und nun sollen Sie auch erfahren, warum.«
Schwester Lioba räusperte sich und strich sich über die Stirn. Dann schob sie sich in ihrem Bett höher, bis sie Emma in die Augen blicken konnte.
»Eines Abends kam es in der Hildegard-AG zu einem sehr kontroversen Gespräch über Sexualität«, begann sie. »Viele Schüler und Schülerinnen sind gegangen, weil es zu einem heftigen Streit zwischen Miriam und Thomas Kern kam. Die beiden waren damals ein Paar, und ich glaube, sie hatten unterschiedliche Ansichten darüber, wie freizügig die Sexualität in ihrer Beziehung sein sollte. Und je mehr sie stritten, desto anzüglicher wurde es. Auch mir wurde es irgendwann zu viel, deshalb ging auch ich.«
»Was war mit Markus?«, fragte Emma.
»Er kannte sehr genau die größte Schwachstelle von Thomas, seine Eitelkeit. Er hat durch Sticheleien die Stimmung immer weiter angeheizt und ist am Ende ebenfalls gegangen.«
Die Äbtissin strich sich die Haare aus dem Gesicht. Als ihre Finger das Pflaster berührten, zuckten sie zurück.
»Am Ende blieben Miriam, Thomas Kern, Josef Windisch und Pater Benedikt, die noch lange miteinander diskutierten. Dann kam es zu Zärtlichkeiten zwischen Miriam und Thomas. Irgendwann wollte Miriam nicht mehr, doch Thomas ließ nicht zu, dass sie ging.«
Die Glocken der Abteikirche waren zu hören. Schwester Lioba ließ den Kopf zur Seite sinken und blickte nachdenklich aus dem Fenster. Als die Glocken verklungen waren, erzählte sie weiter.
»Miriam wurde vergewaltigt. Erst von Thomas, dann von Josef.«
Emma schloss für einen Moment die Augen. »Und Pater Benedikt?«, fragte sie dann.
»Er hat nichts unternommen, um Miriam zu schützen«, sagte sie leise. »Als Thomas ihn dazu bringen wollte, Miriam ebenfalls zu vergewaltigen, erklärte er, dass er sich ein paar Jahre zuvor hätte kastrieren lassen und seitdem impotent sei.«
Leiser Gesang wehte über den Klosterhof. Schwester Lioba faltete die Hände. Emma hatte den Eindruck, dass sie ein kurzes Gebet sprach. Dann erzählte sie weiter.
»Ich habe sie gedrängt, die Männer anzuzeigen, aber sie wollte nicht. Sie sagte, den meisten Männern passiere nichts, wenn sie wegen Vergewaltigung vor Gericht ständen.«
»Das stimmt leider«, sagte Emma. »Kommen Männer wegen Vergewaltigung vor Gericht, dann wird zuallererst die Frau in Frage gestellt und ihre Glaubwürdigkeit angezweifelt. Meist steht Aussage gegen Aussage. Gerade wenn eine Frau durch die Vergewaltigung schwer traumatisiert wurde, kann sie den Tathergang meist nicht so ruhig und mit allen Einzelheiten immer und immer wieder schildern, so dass Polizisten, Gutachter und Richter ihr glauben würden.«
Ein Schatten legte sich über das Gesicht von Schwester Lioba. »Miriam hat nie wieder einem Mann vertraut«, sagte sie leise. »Aber sie ist eine starke Frau.« Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. »Sie war eine starke Frau«, korrigierte sie sich und lächelte traurig. »Sie hat sich gegen die Vergewaltigung zur Wehr gesetzt, aber gegen zwei Männer reichte ihre Kraft nicht.«
»Wenn mehrere Männer beteiligt waren, haben die Frauen meist noch weniger Chancen mit einer Anzeige«, sagte Emma und kämpfte gegen die ohnmächtige Wut, die sie immer bei diesem Thema befiel.
»Sie hat sich an ihnen gerächt«, flüsterte Schwester Lioba.
»Sie hat an dem Abend mitbekommen, dass Pater Benedikt sie nicht vergewaltigen konnte, weil er kastriert war. Also beschloss sie, dafür zu sorgen, dass Thomas und Josef nie wieder eine Frau vergewaltigen würden.«
»Sie hat sie kastriert?«
»Zwei Tage später hat sie ihnen etwas in den Tee getan«, fuhr Schwester Lioba fort. »Und als sie wieder aufwachten, waren sie kastriert.«
»Wie hat sie das geschafft?«, fragte Emma.
»Das wird für immer ihr Geheimnis bleiben. Ich glaube ja, dass sie es selber getan hat. Ihr Vater war Tierarzt, und sie hat ihm oft geholfen, wenn er Stiere und Pferde kastrierte. Vielleicht hat sie ihn auch dazu gebracht, ihr zu helfen. Keine Ahnung, wie sie es angestellt hat. Aber sie hat es geschafft.«
»Und wenn die Männer Miriam angezeigt hätten, dann wäre auch die Vergewaltigung aktenkundig geworden«, sagte Emma.
»Ja«, erwiderte Schwester Lioba. »Pater Benedikt hat sich geweigert, für die beiden zu lügen. Also blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu schweigen.«
»Ich hatte
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