Die Glut
jungen Leben lag, ein Ersatz für alles, was die anderen, die Neugierigen und Unruhigen, schaudervoll quälte und auf die dunkleren unteren Regionen des Lebens zutrieb.
Sie lebten in einer tiefverwurzelten Ordnung, wie sie jahrhundertealte Übung und Erfahrung vorschrieben. Jeden Morgen fochten sie eine Stunde lang in der Turnhalle der Anstalt, mit Helm, Bandagen und nacktem Oberkörper. Dann gingen sie reiten. Henrik war ein guter Reiter, Konrád kämpfte auf dem Pferderücken verzweifelt um Gleichgewicht und Sicherheit, seinem Körper fehlte die ererbte Erinnerung an diese Fertigkeit. Henrik lernte leicht, Konrád mit Mühe, doch was er gelernt hatte, hütete er mit krampfhaftem Eifer, er schien zu wissen, dass er auf der Welt nichts anderes besaß. Auch in der Gesellschaft bewegte sich Henrik mit Leichtigkeit, Nonchalance und Hochmut, wie einer, den nichts mehr überrascht; Konrád war steif und überkorrekt. Eines Sommers reisten sie nach Galizien, zu Konráds Eltern. Da waren sie schon junge Offiziere. Der Baron - ein glatzköpfiger, unterwürfiger alter Mann, der vom vierzigjährigen Dienst in Galizien und von den unbefriedigten gesellschaftlichen Ambitionen seiner adeligen polnischen Frau verbraucht war - bemühte sich verwirrt und diensteifrig, die jungen Herren zu unterhalten. Die Stadt war erdrückend mit ihren alten Türmen, dem Brunnen in der Mitte des viereckigen Hauptplatzes, den dunklen, gewölbten Zimmern. Und die Menschen, die Ukrainer, die Deutschen, die Juden, die Russen, lebten hier in einer Art behördlich zurückgedrängtem, gedämpftem Trubel, etwas schien in der Stadt, in den dämmrigen, ungelüfteten Wohnungen fortwährend zu gären, ein Aufruhr oder vielleicht bloß eine armselige, geschwätzige Unzufriedenheit, oder nicht einmal das: die schwüle Hektik und der Wartezustand einer Karawanserei. Es war in den Häusern, auf den Plätzen, im Leben der Stadt überall zu spüren. Nur die Kathedrale mit ihrem starken Turm und ihren breiten Bögen überragte gelassen dieses Geschrei, Gekreisch und Geflüster, als wäre in der Stadt ein einziges Mal mit allem Nachdruck etwas Unumstößliches, Unverbrüchliches und Endgültiges ausgesprochen worden. Die Jungen wohnten im Gasthaus, denn die Wohnung des Barons bestand aus drei kleinen Zimmern. Am ersten Abend, nach dem reichhaltigen Essen, den fettigen Fleischgerichten und den schweren blumigen Weinen - die Konráds Vater, der alte Beamte, und seine verwelkte, mit lila und roter Schminke kakaduhaft aufgedonnerte traurige polnische Frau in der ärmlichen Wohnung mit rührendem Eifer auftragen ließen, als hinge das Glück des selten heimkehrenden Sohnes von der Qualität der Speisen ab -, saßen die jungen Offiziere noch lange in ihrem galizischen Gasthaus, in einer dunklen Ecke des mit staubigen Palmen geschmückten Speisesaals. Sie tranken einen schweren ungarischen Wein aus Hegyalja, rauchten und schwiegen.
»Jetzt hast du sie gesehen«, sagte Konrád.
»Ja«, sagte der Sohn des Gardeoffiziers schuldbewusst.
»Jetzt weißt du es also«, sagte der andere ernst und sanft. »Jetzt kannst du dir vorstellen, was hier seit zweiundzwanzig Jahren um meinetwillen geschieht.«
»Ja«, sagte der Sohn des Gardeoffiziers, und etwas schnürte ihm die Kehle zusammen.
»Jedes Paar Handschuhe«, sagte Konrád, »das ich haben muß, wenn wir alle zusammen ins Burgtheater gehen, kommt von hier. Brauche ich neues Zaumzeug, essen sie drei Tage lang kein Fleisch. Gebe ich in einer Abendgesellschaft ein Trinkgeld, verzichtet mein Vater eine Woche lang auf seine Zigarren. So geht das seit zweiundzwanzig Jahren. Und ich habe immer alles gehabt. Irgendwo weit weg, in Polen, hatten wir ein Gehöft. Ich habe es nie gesehen. Es gehörte meiner Mutter. Von da kam alles: die Uniform, das Schulgeld, das Geld für die Theaterkarten, der Blumenstrauß, den ich deiner Mutter geschickt habe, als sie in Wien vorbeikam, die Examensgebühren, die Ausgaben für das Duell, als ich mich mit dem Kerl aus Bayern schlagen musste. Seit zweiundzwanzig Jahren, alles. Zuerst haben sie die Möbel verkauft, dann den Garten, dann das Land, dann das Haus. Dann haben sie ihre Gesundheit geopfert, ihre Bequemlichkeit, ihre Ruhe, ihr Alter und die gesellschaftlichen Ambitionen meiner Mutter, nämlich das zusätzliche Zimmer in dieser verlausten Stadt, ein Zimmer mit anständigen Möbeln, wo man hin und wieder Gäste empfangen könnte. Verstehst du?«
»Verzeih mir«, sagte Henrik aufgeregt und
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