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Die Glut

Die Glut

Titel: Die Glut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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bleich.
    »Ich bin dir nicht böse«, sagte sein Freund äußerst ernst. »Ich wollte nur, dass du es einmal gesehen hast und weißt. Als der Bayer mit gezogenem Degen auf mich losging und wie ein Verrückter um sich schlug, wobei er sich bestens amüsierte, als wäre es ein toller Scherz, dass wir uns aus Eitelkeit zu Krüppeln hacken, da ist mir das Gesicht meiner Mutter eingefallen, wie sie jeden Morgen selbst zum Markt geht, damit die Köchin sie nicht um zwei Fillér betrügt, denn diese zwei Fillér sind Ende des Jahres fünf Forint, und die kann sie mir dann in einem Umschlag schicken ... Und da hätte ich den Bayern tatsächlich umbringen mögen, der mir aus Eitelkeit Schaden zufügen wollte und nicht wusste, dass alles, was er mir antut, ein tödliches Vergehen an zwei Menschen ist, die in Galizien wortlos ihr Leben für mich geopfert haben. Wenn ich bei euch zu Hause dem Diener ein Trinkgeld gebe, verbrauche ich etwas von ihrem Leben. Es ist sehr schwer, so zu leben«, sagte er und wurde rot.
    »Warum?«, fragte der andere leise. »Meinst du nicht, dass für sie das alles sehr gut ist?«
    »Für sie vielleicht schon.« Der Junge verstummte. Bis dahin hatte er nie von alledem gesprochen. Jetzt sagte er es, stockend und ohne dem anderen in die Augen zu blicken. »Aber für mich ist es sehr schwer, so zu leben. Es ist, als ob ich mir nicht selbst gehörte. Wenn ich krank bin, erschrecke ich, denn es ist, als würde ich fremdes Gut vergeuden, etwas, das nicht ganz mir gehört: meine Gesundheit. Ich bin Soldat, man hat mich dazu erzogen, dass ich töte und mich töten lasse. Darauf habe ich geschworen. Aber warum haben sie das alles auf sich genommen, wenn ich ja umgebracht werden soll? Verstehst du jetzt? ... Sie leben seit zweiundzwanzig Jahren in dieser Stadt, wo alles so muffig riecht wie in einer unreinlichen Wohnung, in der durchziehende Karawanen genächtigt haben … der Geruch von Essen und billigem Parfüm und ungelüfteten Betten. Hier leben sie, ohne je aufzubegehren. Mein Vater ist seit zweiundzwanzig Jahren nicht mehr in Wien gewesen, wo er zur Welt gekommen und aufgewachsen ist. Seit zweiundzwanzig Jahren nie eine Reise, nie ein zusätzliches Kleidungsstück, nie ein Sommerausflug, weil aus mir ein Meisterwerk geschaffen werden muß, wie sie selbst es aus Schwäche nicht werden konnten. Manchmal, wenn ich etwas tun will, stockt mir die Hand in der Luft. Immer diese Verantwortung. Ich habe ihnen auch schon den Tod gewünscht«, sagte er ganz leise.
    »Ja«, sagte Henrik.
    Vier Tage blieben sie in der Stadt. Als sie abreisten, hatten sie zum ersten Mal im Leben das Gefühl, zwischen ihnen sei etwas geschehen. Als ob der eine dem anderen etwas schulde. Es war nicht in Worte zu fassen.

6

    Doch Konrád hatte eine Zuflucht, wohin ihm sein Freund nicht folgen konnte: die Musik. Sie war wie ein geheimer Unterschlupf, in dem die Welt ihn nicht erreichen konnte. Henrik war unmusikalisch, für ihn taten es auch Zigeunermusik und Wiener Walzer.
    Von Musik sprach man in der Anstalt nicht, Musik wurde, von Erziehern und Schülern, eher nur als eine Art Jugendsünde geduldet und verziehen. Ein jeder hat ja seine Schwächen. Der eine züchtet Hunde, koste es, was es wolle, der andere ist aufs Reiten versessen. Immer noch besser als das Kartenspiel, dachte man. Ungefährlicher als die Frauen, dachte man.
    Doch Henrik kam allmählich der Verdacht, dass die Musik gar kein so harmloses Vergnügen war. In der Anstalt wurde die wirkliche Musik, die aufbegehrende und aufwallende, selbstverständlich nicht geduldet. Zur Ausbildung gehörte zwar auch Musikunterricht, aber nur in allgemeinen Begriffen. Von der Musik wussten sie gerade so viel, dass es Blechbläser dazu brauchte, dass vorn der Tambourmajor marschierte und von Zeit zu Zeit seinen silbernen Stab in die Höhe hob. Hinter den Musikanten zog ein Pony die Pauke. Das war eine rechte Musik, laut und regelmäßig, die den Schritt der Truppe regulierte, die bürgerliche Einwohnerschaft auf die Straße lockte und die unabdingbare Zier einer jeden Parade war. Man schritt strammer, wenn man Musik hörte, und das war alles. Manchmal war sie lustig, manchmal schwülstig und pompös. Im weiteren kümmerte sich niemand darum.
    Konrád aber wurde ganz blass, wenn er Musik hörte. Jede Art von Musik, auch die einfachste, berührte ihn so stark wie ein physischer Angriff. Er erbleichte, seine Lippen bebten. Die Musik sagte ihm etwas, das die anderen nicht nachvollziehen

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