Die Glut
zusammen, denn der Gardeoffizier hatte dafür gesorgt, dass sein Sohn und Konrád ihre ersten Dienstjahre im Umkreis des Hofes absolvieren konnten. Sie mieteten in der Nähe des Schönbrunner Parks drei Zimmer, im ersten Stock eines schmalen Hauses mit grauer Fassade. Die Fenster gingen auf einen langen, schmalen, zu dicht bewachsenen Garten voller Ringlottenbäume. Sie waren Mieter bei der tauben Witwe eines Regimentsarztes. Konrád mietete ein Klavier, spielte aber selten; er schien die Musik zu fürchten. Hier lebten sie wie Geschwister, aber Henrik spürte manchmal mit Beunruhigung, dass der Freund ein Geheimnis hatte.
Konrád war »eine andere Art Mensch«, und mit Fragen kam man seinem Geheimnis nicht auf die Spur. Er war immer ruhig, immer friedfertig. Er versah seinen Dienst und verkehrte mit den Kameraden und in der Gesellschaft so, als endete der militärische Dienst nie, als wäre das Leben eine einzige, ganz und gar geregelte Dienstzeit, und das nicht nur tagsüber, sondern auch nachts. Sie waren junge Offiziere, und der Sohn des Gardeoffiziers fühlte mit einer gewissen Besorgnis, dass Konrád wie ein Mönch lebte. Als wäre er gar nicht von dieser Welt. Als begänne für ihn nach den Dienststunden ein anderer Dienst, einer, der komplizierter und verantwortungsvoller war, so wie für einen jungen Mönch nicht nur die Gebete und die Riten den Dienst bedeuten, sondern auch das Alleinsein, die Einkehr, ja, auch der Traum. Konrád fürchtete sich vor der Musik, mit der er ein geheimnisvolles Verhältnis hatte, das nicht nur sein Bewusstsein beeinflusste, sondern auch seinen Körper: als sei auf dem Grunde der Musik ein schicksalhafter Befehl verborgen, der ihn aus der Bahn werfen, in ihm etwas zerbrechen würde. Morgens gingen die Freunde zusammen reiten, im Prater oder in der Reitschule, dann versah Konrád seinen Dienst, kehrte in die Hietzinger Wohnung zurück, und manchmal vergingen Wochen, ohne dass er abends etwas unternommen hätte. Das alte Haus wurde noch mit Petroleumlampen und Kerzen beleuchtet; der Sohn des Gardeoffiziers kehrte fast immer erst nach Mitternacht heim, vom Ball oder von einer Gesellschaft, und schon von der Straße, vom Fiaker aus sah er im Fenster seines Freundes das mutlose, vorwurfsvolle Licht der flackernden schwachen Beleuchtung. Das helle Fenster sandte irgendwie ein anklagendes Zeichen. Der Sohn des Gardeoffiziers reichte dem Kutscher ein Geldstück, blieb auf der stillen Straße vor dem alten Tor stehen, zog die Handschuhe aus, holte die Hausschlüssel hervor und hatte ein bisschen das Gefühl, seinen Freund auch an diesem Abend wieder verraten zu haben. Er kam aus der Welt, wo leise Musik durch Esszimmer und Ballsäle und Salons schwebte: aber anders, als sein Freund es mochte. Es wurde Musik gemacht, damit das Leben angenehmer und festlicher sei, damit die Augen der Frauen blitzten und die Eitelkeit der Männer Funken sprühte. Das war der Zweck, zu dem in der Stadt, an den Orten, wo der Sohn des Gardeoffiziers die Nächte seiner Jugend verbrachte, Musik gemacht wurde. Die Musik hingegen, die Konrád liebte, bot nicht das Vergessen an, sondern berührte in den Menschen die Leidenschaften und das Schuldgefühl, sie wollte, dass das Leben in den Herzen und im Bewusstsein der Menschen wahrer sei. Solche Musik ist beängstigend, dachte der Sohn des Gardeoffiziers und begann leise und trotzig einen Walzer zu pfeifen. In jenem Jahr pfiff ganz Wien die Walzer eines Komponisten, der in Mode war, nämlich die des jüngeren Strauß. Er nahm den Schlüssel und öffnete das uralte Tor, das langsam und schwerfällig aufging, durchquerte die weite Vorhalle des moderig riechenden gewölbten Treppenhauses, beleuchtet von Öllichtern hinter blasigem Glas, blieb einen Augenblick stehen und schaute kurz auf den Garten, der im Mondlicht verschneit dalag, als sei er mit Kreide zwischen die dunklen Umrisse der Dinge gezeichnet. Es war alles friedlich. Wien schlief schon. Lag in tiefem Schlaf, während es schneite. Auch der Kaiser in der Burg schlief, und in den Ländern des Kaisers schliefen fünfzig Millionen Menschen. Der Sohn des Gardisten spürte, dass diese Stille auch ihn anging, dass auch er über den Schlaf und die Sicherheit des Kaisers und der fünfzig Millionen wachte, auch dann, wenn er nichts anderes tat als seine Uniform mit Ehre tragen, abends in die Gesellschaft gehen, sich Walzer anhören, französischen Rotwein trinken und den Damen und Herren genau das sagen, was sie von
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