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Die Glut

Die Glut

Titel: Die Glut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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konnten. Wahrscheinlich sprachen die Melodien nicht zu seinem Verstand. Die Disziplin, die er sich abverlangte, mit deren Hilfe er sich in der Welt einen Rang verschafft hatte und die er wie eine Strafe und eine Buße auf sich nahm, lockerte sich in solchen Augenblicken, als gäbe auch die krampfhaft starre Haltung seines Körpers nach. Wie bei den Paraden, wenn nach langem, ermüdendem Strammstehen plötzlich »Ruhen!« befohlen wurde. Seine Lippen aber zitterten, als wollte er etwas sagen. Bei solchen Gelegenheiten vergaß er, wo er war, seine Augen lächelten, er blickte ins Leere, nahm um sich herum nichts wahr, weder die Vorgesetzten noch die Kameraden, noch die schönen Damen, noch das Theaterpublikum. Er hörte mit dem ganzen Körper Musik, so begierig wie der Verurteilte in seiner Zelle, der auf den Klang ferner, vielleicht Befreiung bedeutender Schritte horcht. Wenn man zu ihm sprach, reagierte er nicht. Die Musik löste die Welt um ihn herum und die Gesetze der künstlichen Einigkeit auf, und in diesen Augenblicken war Konrád nicht mehr Soldat.
    Eines Abends im Sommer, als er mit Henriks Mutter vierhändig spielte, geschah etwas. Es war vor dem Abendessen, sie saßen im großen Saal, der Gardeoffizier und sein Sohn hörten in einer Ecke des Saals sitzend höflich zu, auf die Art bereitwillig und geduldig, wie wenn man sagt: »Das Leben besteht aus Pflichten, auch die Musik muß ertragen werden. Damen darf man nicht widersprechen.« Die Mutter spielte leidenschaftlich: Sie spielten Chopins Polonaise-Fantaisie . Alles im Zimmer schien in Bewegung zu geraten. In ihrer Ecke, bei ihrem geduldigen, höflichen Ausharren, spürten Vater und Sohn, dass in den beiden Körpern, in dem der Mutter und in dem von Konrád, jetzt etwas geschah. Als höbe die Musik herausfordernd die Möbel in die Höhe, als ließe eine Kraft die schweren Seidenvorhänge vor den Fenstern flattern, als würde alles, was in den Herzen vergraben war, das Verknöcherte und Verschimmelte, auf einmal lebendig, als wäre im Herzen eines jeden Menschen ein tödlicher Rhythmus verborgen, der in einem bestimmten Augenblick des Lebens stark und schicksalhaft zu klopfen beginnt.
    Die höflichen Zuhörer begriffen, dass die Musik gefährlich ist. Aber die beiden am Klavier, die Mutter und Konrád, achteten nicht mehr auf die Gefahr. Die Polonaise-Fantaisie war nur noch ein Vorwand, die Kräfte auf die Welt loszulassen, die alles verrücken und sprengen, was die menschliche Ordnung so sorglich verborgen hält. Sie saßen steif aufgerichtet am Klavier, etwas nach hinten geneigt und so angespannt, als jage die Musik ein unsichtbares, sagenhaftes Gespann feuriger Rosse im Sturm über die Welt, als hielten sie mit versteiften Körpern und harten Händen die Zügel im rasenden Lauf der freigewordenen Kräfte. Und dann hörten sie mit einem einzigen Ton auf. Durch die großen Fenster fiel die Abendsonne herein, im Lichtstrahl kreisten Goldpartikeln, als habe das überirdische Gespann bei seinem Galopp durch den Himmel Staub aufgewirbelt, auf seinem Weg ins Verderben, ins Nichts.
    »Chopin«, sagte schwer atmend die französische Frau. »Sein Vater war Franzose.«
    »Seine Mutter Polin«, sagte Konrád und blickte mit seitwärts geneigtem Kopf zum Fenster hinaus. »Er war mit meiner Mutter verwandt«, sagte er beiläufig, als schämte er sich dieser Verbindung.
    Sie horchten alle auf, denn in seiner Stimme klang eine Traurigkeit mit, wie in der Stimme von Verbannten, wenn sie von der Heimat und ihrem Heimweh sprechen. Der Gardeoffizier blickte äußerst aufmerksam, den Oberkörper etwas vorgeneigt, auf den Freund seines Sohnes, als sähe er ihn zum ersten Mal. Als er am Abend mit seinem Sohn allein im Rauchzimmer war, sagte er zu ihm: »Aus Konrád wird nie ein richtiger Soldat.«
    »Warum?«, fragte der Sohn erschrocken.
    Aber er wusste, dass sein Vater recht hatte. Der Gardeoffizier zuckte mit den Schultern. Er rauchte eine Zigarre, saß mit langgestreckten Beinen vor dem Kamin, blickte dem Rauch nach. Und sagte mit der Ruhe und der Überlegenheit des Kenners: »Weil er eine andere Art Mensch ist.«
    Der Vater war nicht mehr am Leben, es waren viele Jahre vergangen, als der General diesen Satz verstand.

7

    Man kennt die Wahrheit immer, jene andere Wahrheit, die von den Rollen, den Kostümen, den Situationen des Lebens verdeckt wird. Die beiden Jungen wuchsen zusammen auf, gemeinsam legten sie den Fahneneid ab, und sie wohnten während der Wiener Jahre

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