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Die Glut

Die Glut

Titel: Die Glut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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ihm hören wollten. Er spürte, dass er sehr energischen Befehlen gehorchte, geschriebenen und ungeschriebenen, und dass dieser Gehorsam ein Dienst war, den er in den Salons genauso versah wie in der Kaserne und auf dem Übungsplatz. Für fünfzig Millionen Menschen bestand die Sicherheit aus diesem Gefühl: dass der Kaiser vor Mitternacht zu Bett geht und schon vor fünf Uhr aufsteht und bei Kerzenlicht in einem amerikanischen Schilfrohrstuhl an seinem Schreibtisch sitzt, während die anderen, die den Eid auf seinen Namen abgelegt haben, alle die Gesetze und Gebräuche befolgen. Natürlich musste man auch in einem tieferen Sinn gehorchen, als es die Gesetze vorschrieben. Man musste den Gehorsam im Herzen tragen, darauf kam es an. Man musste überzeugt sein, dass alles an seinem Ort war. In diesem Jahr waren sie zweiundzwanzig Jahre alt, der Sohn des Gardeoffiziers und sein Freund.
    Sie, die jungen Offiziere in Wien. Der Sohn des Gardeoffiziers ging über die morschen Stufen nach oben und pfiff leise seinen Walzer. Alles in diesem Haus roch ein bisschen moderig, die Treppe, die Zimmer, es roch aber auch irgendwie angenehm, als hätte sich in den Zimmern der süße Sirupduft von Eingemachtem verbreitet. In jenem Winter brach in Wien der Karneval wie eine leichte, lustige Epidemie aus. Jeden Abend wurde in weiß-goldenen Räumen im flackernden Falterlicht der Gasleuchter getanzt. Es fiel viel Schnee, und die Kutscher fuhren die Verliebten lautlos durch die Flocken. Wien tanzte im Schneefall, der Sohn des Gardeoffiziers ging jeden Vormittag in die alte Reithalle und schaute den Übungen der spanischen Reiter und der weißen Lipizzaner zu. In den Körpern von Reitern und Pferden war etwas, eine Art Vornehmheit und Adel, eine Art schuldbewusster Wohligkeit, ein Rhythmusgefühl, wie es allen edlen Seelen und vornehmen Körpern eingeschrieben ist. Dann ging er spazieren, denn er war jung. Er stand vor den Geschäften der Innenstadt herum, zusammen mit anderen Flaneuren, und hin und wieder erkannte ihn ein alter Fiakerkutscher oder ein Kellner, weil er seinem Vater glich. Eine große Familie war das, Wien und die Monarchie, die Ungarn, Deutschen, Mährer, Tschechen, Serben, Kroaten und Italiener, und in der großen Familie wusste jeder insgeheim, dass nur der Kaiser unter all den abenteuerlichen Gelüsten, Neigungen und Emotionen Ordnung zu halten vermochte, der Kaiser, zugleich Wachtmeister und Hoheit, Kanzlist mit Ärmelschonern und Grandseigneur, ein ungehobelter Klotz und doch der Herrscher. Wien war in Stimmung. In den muffigen Altstadtschenken mit den hohen Gewölben gab es das beste Bier der Welt, und beim Klang der Mittagsglocken füllte der Duft des Rindsgulaschs die Straßen und verbreitete in den Seelen eine Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit, als müsste das friedliche Leben ewig währen. Die Frauen trugen schwarze Pelzmuffs und Hüte mit Federn, und ihre Nasen und Augen blitzten hinter dem Schleier, den sie sich im Schneefall vors Gesicht gezogen hatten. Nachmittags um vier wurde in den Kaffeehäusern das Gaslicht angezündet und der Kaffee mit Schlagobers serviert, an den Stammtischen saßen Generale und Beamte, die Frauen kauerten errötend in Mietskutschen und flogen holzgeheizten Junggesellenwohnungen entgegen, denn es war Fasching, und der Aufruhr der Liebe verbreitete sich in der Stadt, als würden die Herzen von den Agenten einer riesigen, sämtliche Gesellschaftsschichten mitreißenden Verschwörung angestachelt und erregt. In der Stunde vor Theaterbeginn trafen sich im Keller von Fürst Esterházys Stadtpalais heimlich die Liebhaber des feurigen Weins, bei Sacher wurden im Séparée schon die Tische für die Erzherzoge gedeckt, und in den rauchigen, schwülen Räumen des Klosterkellers beim Stephansdom tranken polnische Herren aufgeregt und traurig harte Schnäpse, denn um Polen stand es schlecht. Doch es gab Stunden in diesem Winter in Wien, da es aussah, als seien alle glücklich. Daran dachte der Sohn des Gardeoffiziers, als er vergnügt und leise pfiff. Im Flur berührte ihn die Wärme des Kachelofens wie ein vertrauter Händedruck. Alles war so weiträumig angelegt in dieser Stadt, und alles war so genau an seinem Platz: Wenn die Erzherzoge ihrerseits ein bisschen ungehobelt waren, so waren andererseits die Hauswarte Repräsentanten und heimliche Nutznießer einer Rangordnung, jener, die alle Menschen umfasst. Neben dem Ofen sprang der Bursche auf, nahm von seinem Herrn Mantel, Tschako und

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