Die Göring-Verschwörung
sein Opfer in der Falle.
Weihnacht riss die unterste der drei Schreibtischschubladen heraus und warf sie mitsamt dem darin befindlichen Holzkästchen hinter sich. Das Kästchen aus lackiertem Walnussholz schlug lautstark auf dem Boden auf und gab dunkle argentinische Zigarillos frei, die sich rollend über den Teppich verteilten. Vor dem Schreibtisch kniend, suchte seine Hand ihren Weg in die untere Ecke hinter dem Schubladenfach. Mit den Fingerspitzen konnte er die Waffe ertasten. Er streckte seinen Arm tiefer in das Versteck und bekam den Lauf zu fassen. Eilig zog er die Pistole raus, entsicherte und lud durch.
»Oho, Herr General, ein später Anflug von Heldenmut?« Der Offizier stand über ihm und zielte mit einer Luger-Dienstpistole auf Weihnachts Kopf. Auf dem unteren Teil des linken Ärmels seiner Uniform war eine Raute aufgenäht, die die Buchstaben SD trug. Die Stiefel waren auf Hochglanz poliert und der jedem Angehörigen der SS verliehene Dolch baumelte von einer kurzen Kette seitlich am breiten Koppel. Weihnacht, immer noch außer Atem, schaute zu ihm hoch. Der Obersturmführer besaß ungewöhnlich attraktive, jungenhafte Gesichtszüge, ragte annähernd zwei Meter hoch und war unverkennbar mit dem Körperbau eines Zuchtbullen gesegnet. Er konnte nicht älter als Anfang zwanzig sein. Das kurz geschorene, blonde Haar war unter der Offiziersmützekaum auszumachen. Die Mundwinkel hatte er in einem Ausdruck von Distanz und Verachtung zu dem spitz zulaufenden Kinn heruntergezogen. Er musste einer der vielen jungen Geheimdienstoffiziere sein, die ihre Aufträge erledigten, ohne menschliche Regungen oder anderweitige Schwächen zu zeigen, in dem Wissen, dass Härte und Skrupellosigkeit sie in diesem neuen Deutschland rasch nach oben katapultieren würden.
Die Waffe im Schoß haltend, kauerte Weihnacht mit schweißnasser Stirn auf dem Boden und rührte sich nicht. Langsam normalisierte sich sein Atem. Das Stechen in der Brust verschwand so übergangslos, wie es gekommen war.
Der SD-Mann fixierte ihn mit ungewöhnlich blassen, teilnahmslos wirkenden Augen. »Nun, Herr General?« Mit dem Zeigefinger der linken Hand schob der Obersturmführer die Schirmmütze mit silbernem Totenkopfemblem aus dem Gesicht und beobachtete den erschöpft schnaufenden Weihnacht, wartend.
»Unser altersschwacher Kriegsheld erwägt Widerstand zu leisten«, zischte er, als zwei weitere schwarz uniformierte Männer abgehetzt in das Büro gelaufen kamen.
Weihnacht hörte nicht hin. Er hatte seinen Entschluss gefasst. Langsam drehte er die Waffe in seiner Hand, senkte den Kopf und drückte ab. Die Kugel durchschlug seinen Oberkiefer und trat am Hinterkopf mit einer kleinen Blutfontäne wieder aus. Augenblicklich sackte der Körper leblos zusammen.
Die beiden Neuankömmlinge zuckten kurz erschrocken. Der Obersturmführer blieb ohne Regung. Er hob den herabhängenden Telefonhörer auf und legte ihn auf die Gabel, um ihn sofort wieder abzunehmen.
»Verbinden Sie mich mit dem Büro des Chefs der Sicherheitspolizei, Reinhard Heydrich persönlich bitte.«
»Wen darf ich melden?«
»Obersturmführer Struttner. Der Gruppenführer erwartet meinen Anruf.«
Nach einer kurzen Weile meldete sich eine Stimme.
»Struttner?«
»Jawohl, Herr Gruppenführer.«
»Ist mein Auftrag erledigt?«
»Melde gehorsamst, General Weihnacht hat sich soeben selbst gerichtet und so der Verhaftung entzogen.«
7
Andere nahmen zu, wenn sie die dreißig überschritten hatten. Er schien hagerer zu werden. Clarson seufzte und schloss den Knopf seines Cutaway.
Die britische Botschaft hatte die leitenden Mitarbeiter des Propagandaministeriums und deren Gattinnen für den heutigen Freitag zu einem Afternoon Tea eingeladen, einem der traditionellen Mittel der britischen Diplomatie. Goebbels, dem Ambitionen auf das Außenministerium nachgesagt wurden, hatte sein Erscheinen zugesagt. Derartige Gelegenheiten griff er stets begierig auf, da er sie außerdem als Bestätigung ansehen konnte, dass man ihn im Ausland nach wie vor als wesentliche Figur des Regimes wahrnahm. Auch Ariane und Henry Clarsons Namen fanden sich auf der Gästeliste. Das Foreign Office hatte offenkundig von Goebbels’ neuen Verwandtschaftsbeziehungen Notiz genommen und setzte sie gleich im Interesse der deutsch-britischen Beziehungen ein.
Clarson hinkte durch das Schlafzimmer der Hotelsuite, die seit fast zwei Wochen seine neue Heimstätte war. Am Kleiderschrank angekommen, stellte er sich vor den
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