Die Götter 2. Das magische Zeichen
Sterblichen waren vollkommen sich selbst überlassen, das stand fest. Diese Erkenntnis machte die Welt nur noch trostloser.
Durch einen glücklichen Zufall war Lorilis zwar noch am Leben, aber ihr Atem war so schwach, dass Souanne jeden Moment mit dem Schlimmsten rechnete. Die Arme hatte offensichtlich starke Schmerzen. Im Licht der Lampe war ihr schaurig verzerrtes Gesicht zu sehen gewesen, und seit Dunkelheit herrschte, hatte sich daran wahrscheinlich nichts geändert. Lorilis war nach wie vor ohne Besinnung und den Angreifern schutzlos ausgeliefert.
Dieser Gedanke rief Souanne ihre eigenen Erlebnisse in Erinnerung. Nach dem Verlust ihrer Mutter hatte sie sich furchtbar unglücklich und verletzlich gefühlt … Ein Mann hatte ihr damals geholfen, er hatte sie zur Grauen Legion geholt und fortan über sie und ihren Werdegang gewacht: Amanón. Zwischen der kleinen Kaulanerin und dem lorelischen Kommandanten gab es zwar kein enges Verwandtschaftsverhältnis, aber sie teilten das Geheimnis von Ji, wodurch sie zu ein- und derselben Familie gehörten. Und auch sie selbst gehörte mittlerweile zu dieser Familie. Es hatte erst zu dem grausamen Zwischenfall mit Lorilis kommen müssen, damit Souanne dies erkannte. Sie hatte sich lange verloren geglaubt, einsam unter Fremden: In Wahrheit hatte sie endlich ihren Platz gefunden.
Das Geräusch von Schritten ließ sie aus ihrer Erstarrung aufschrecken, und einen Wimpernschlag später war die junge Frau zurück in der Wirklichkeit. Überall um sie herum tobte der Kampf. Die Feinde waren mittlerweile noch zahlreicher als zuvor, und einer von ihnen bewegte sich mit gezogenem Schwert auf sie zu.
Souannes Stimmung änderte sich so schnell, wie man einen Hebel umlegt. Sie stieg über Lorilis’ Körper hinweg und zog Saats Schwert – ihr Schwert –, um den lebensbedrohlichen Hieb ihres Gegners abzuwehren. Dies gelang ihr mit erstaunlicher Leichtigkeit, dabei konnte sie ihre Schwertkampftechnik in wenigen Tagen nicht übermäßig verbessert haben. Die Kraft und Gewandtheit, mit der Souanne die Waffe schwang, rührten vielmehr von einem Gefühl her, das Hunger ähnelte – es war derselbe nagende Hunger, der Raubtiere dazu bewegt, auf die Jagd zu gehen und auch noch die schnellste Beute zu erlegen. Im Unterschied zu Raubtieren war Souanne jedoch nur darauf aus, ihre Angreifer zu töten.
Sie versuchte sich einzureden, dass sie nur Lorilis rächen wollte, aber insgeheim wusste sie, dass es nicht stimmte. Sie wusste es spätestens seit dem Gespräch mit Guederic. Sie beide teilten ein hässliches Geheimnis, eine Art Fluch, der sie bei jeder Gelegenheit, die sich bot, zum Töten anstachelte. Dabei bestand die eigentliche Erfüllung nicht darin, ihre Gegner niederzumetzeln. Der Rausch stellte sich erst ein, wenn die Kraft der Getöteten sie durchfuhr, oder genauer gesagt, mit ihrer eigenen Kraft verschmolz.
Auch jetzt, als sie den Hals des Mörders mit dem Schwert durchbohrte, spürte sie es. Trotz der Dunkelheit sah sie, wie der Mann die Augen verdrehte, während ihm Blut in Strömen über die Brust lief … Doch nicht einmal dieser furchtbare Anblick verdarb ihr den Genuss: Eine Welle der Energie fuhr ihr in den Körper. Der Kerl war kaum zu Boden gesackt, als sie mit glänzenden Augen und von unbändigem Verlangen erfüllt bereits nach dem nächsten Opfer Ausschau hielt. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass die Freude, die sie spürte, wenn sie einen Sieg davontrug, keine gute war. Doch war sie nicht in der Lage, sich zu beherrschen, und noch dazu sicher, dass auch Guederic der Versuchung verfallen war, obwohl sie ihn gerade nicht sehen konnte.
Dieser rätselhafte Rausch, der sie überkam, vernebelte ihre Gedanken. Statt nah bei Lorilis zu bleiben und sie zu schützen oder zu schauen, wer von ihren Gefährten am dringendsten Hilfe brauchte, rannte die Legionärin auf die Felswand zu und setzte zum Sprung an. Es gelang ihr zwar nicht, die obere Kante mit den Händen zu packen, doch sie erwischte im Flug einen Mörder mit dem Schwert am Bein und trennte ihm den Unterschenkel ab. Der Mann brüllte auf, hielt sich mit beiden Händen den Stumpf und stürzte kurz darauf hinunter in die Arena. Souanne gab ihm mit zwei schnellen Stichen den Rest. Sie tat dies weder aus Mitleid noch um ihren Gefährten zum Sieg zu verhelfen: Sie tat es einzig, um das berauschende Gefühl abermals zu spüren, das immer viel zu kurz andauerte.
Souanne wollte zu einem weiteren tödlichen Sprung ansetzen,
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