Die Götter 2. Das magische Zeichen
auch wenn er sie völlig überrumpelt hatte. Souanne musste sich eingestehen, gewisse Gefühle für den jungen Mann entwickelt zu haben, die ihr bisher unbekannt gewesen waren. Im Grunde hätte sie sich einfach an dem Kuss erfreuen können, selbst wenn es eine einmalige Sache gewesen sein sollte.
Warum aber bereute dann ein Teil von ihr, was geschehen war?
Obwohl sie sich über die Frage lange den Kopf zerbrochen hatte, kam sie einfach nicht dahinter. Aber irgendwie war es, als hätten Guederic und sie nicht das Recht, sich dem Austausch von Zärtlichkeiten hinzugeben, als hätten sie wider die Natur gehandelt. Was war so schlimm an einem flüchtigen Kuss?
Alles Grübeln brachte sie jedenfalls nicht weiter. Sie beschloss, die Kajüte zu verlassen, um etwas frische Luft zu schnappen. Der Moment war gut gewählt: Sie kam gerade rechtzeitig an Deck, um Josions, Maaras und Damiáns Rückkehr mitzuerleben.
Zejabel, Guederic und Najel liefen ihnen entgegen, und auch Lorilis kam aus der Kombüse gestürzt. Keiner der drei Rückkehrer schien verletzt, aber ihre hastigen Schritte und finsteren Gesichter versprachen nichts Gutes. Eine Vorahnung trieb Souanne hinunter auf den Anlegesteg. Sie hatte das sichere Gefühl, dass sie den Hafen bald verlassen würden, und begann deshalb, die Schiffsleinen zu lösen. Und richtig: Sobald Damián, Josion und Maara an Bord waren, machten sie sich daran, die Segel zu setzen.
Kaum zwei Dezillen später legte die Wasserratte vom Pier ab und fuhr langsam auf die Hafenausfahrt zu. Die beiden Leuchttürme, die den Durchgang flankierten, blickten auf sie herunter wie unberechenbare Zyklopen. Josion, Maara und Damián hatten bisher kein Wort gesagt, aber ihre bangen Blicke zur Kaimauer hinüber zeigten deutlich, wie groß ihre Angst vor Verfolgern war.
Kurz darauf passierten sie die letzte Boje des Hafens. Das Bimmeln der Glocke an ihrem Signalmast verfolgte sie noch eine ganze Weile, während die Erben aufs offene Meer hinaussegelten. Um sie herum war nichts als bleischwere Nacht.
» Was ist denn los? « , platzte Guederic heraus. » Ihr habt ja ewig gebraucht! «
» Wir wurden von einem kleinen Empfangskomitee begrüßt « , sagte Josion.
Er zeigte den anderen seine Platzwunde am Kopf. Josion hatte außerdem eine riesige Beule, die sich bereits gelblich färbte. Zejabel warf nur einen kurzen Blick darauf und verschwand dann in Richtung Kajüte. Gleich darauf kehrte sie mit einem Töpfchen Salbe zurück, dessen Inhalt sie großzügig auf der Kopfhaut ihres Sohnes verteilte. Josion ließ sich behandeln, ohne mit der Wimper zu zucken. Diese Szene musste sich in seiner Kindheit oft abgespielt haben.
» Habt ihr Amanóns Aufzeichnungen? «, fragte Zejabel.
Als Antwort hob Damián die Tasche, die er in der Hand hielt, auf Brusthöhe. Sie schien schwer zu sein, was ein gutes Zeichen war.
» Ich muss euch etwas sagen « , verkündete er. » Ich hätte es schon viel früher tun sollen, aber … Na ja, besser spät als nie. «
Ausführlich berichtete Damián von ihrem Einbruch ins Hauptquartier der Grauen Legion und von den Männern, die ihnen aufgelauert hatten. Die plötzliche Wendung der Ereignisse erstaunte alle sehr, und zur weiteren Erklärung erzählte er von den dramatischen Momenten während des Kampfs auf der Burg. Seine Worte stimmten alle nachdenklich.
» Als die Männer außer Gefecht gesetzt waren « , fuhr er fort, » konnten wir endlich in das Arbeitszimmer meines Vaters eindringen. Wir mussten die Aufzeichnungen über die Etheker nicht lange suchen. Sie lagen mitten auf seinem Schreibtisch. Ich glaube, unsere Feinde lesen schon seit vielen Nächten darin. Wahrscheinlich schließen sie sich nachts in dem Zimmer ein und verschwinden im Morgengrauen wieder. Vielleicht sind sogar die Wachen eingeweiht. «
» Sie schließen sich ein? « , fragte Souanne besorgt. » Das heißt also, sie haben den Schlüssel des Kommandanten? «
» Nein, nur einen Generalschlüssel « , antwortete Maara. » Den hier. «
Stolz zeigte sie ihre Trophäe, die sie einem der Toten abgenommen hatte. Souanne spürte Eifersucht in sich aufsteigen. Sie hätte den Kerlen auch gern den Garaus gemacht … Dann dämmerte ihr, dass ihr dieser Gedanke von ihrem schändlichen Drang zu töten eingeflüstert wurde.
» Vielleicht haben unsere Feinde aber auch einen Teil der Aufzeichnungen mitgenommen « , überlegte Lorilis. » Zum Beispiel alles, was für uns von Interesse sein könnte … «
» Das glaube ich
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