Die Götter 2. Das magische Zeichen
gerade machte. Diesen Gedanken fand sie mindestens so befremdlich wie alles, was sie seit ihrer Fahrt zur Insel Ji erlebt hatte.
Ausgerechnet jetzt, wo sie bereits über die Dächer liefen, stellte Damián fest, dass er nicht schwindelfrei war. Zunächst hatte er seine Zittrigkeit auf den Schlafmangel geschoben und auf die Anspannung wegen des bevorstehenden Einbruchs. Doch schließlich musste er der Wahrheit ins Gesicht sehen. Die Höhe löste schreckliche Beklemmung in ihm aus, und er sehnte sich danach, endlich wieder mit beiden Beinen fest auf dem Boden zu stehen.
Im Grunde bewies Damián großen Mut. Er verbarg seine Höhenangst, so gut es ging, und zögerte nur unmerklich, wenn es wieder einmal galt, über einen schmalen Sims zu balancieren oder auf ein angrenzendes Dach zu springen. Während sein Cousin von Vorsprung zu Vorsprung glitt wie ein Schatten, stand Damián der Schweiß auf der Stirn, und sein Herz geriet immer wieder ins Stolpern. Er verachtete sich für seine Schwäche, aber was konnte er tun? Jedenfalls blieb ihm nichts, außer die Panik weiter in Schach zu halten. Er war jedenfalls heilfroh, dass sein Cousin die Führung übernommen hatte. Mit knapper Not gelang es Damián, sich immer nur auf den nächsten Schritt zu konzentrieren und nicht zur Straße hinunterzusehen.
Die nächste Etappe war eine noch größere Herausforderung. Nach einer waghalsigen Kletterpartie über die Dächer erreichten die drei endlich die Rückseite des Palasts – aber das nächstgelegene Fenster war immer noch gut drei Schritt entfernt.
Für Josion war das kein Problem: Mit einem Satz sprang er über die Kluft und landete sicher auf dem kaum zwei Hand breiten Sims. Dann nahm er seinen Dolch und hebelte geschickt das Fenster auf, ohne die Scheibe zu beschädigen. Josion sprang hinunter in das dunkle Gebäude und tauchte wieder auf, nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand im Zimmer war.
Jetzt waren seine Gefährten an der Reihe.
Maara folgte ihm als Erste – wie immer.
Für sie schien das eine Art Spiel zu sein: Sie wollte unbedingt beweisen, dass sie Josion in nichts nachstand. Ihr gelang der Sprung auf das Sims, ohne ins Taumeln zu geraten oder durch das offene Fenster ins Zimmer zu fallen. Hilfsbereit streckte Josion ihr den Arm entgegen, aber sie weigerte sich standhaft, seine Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dann wandten sich beide zu Damián um und warteten, dass auch er sprang.
Er ließ sich keine Zeit zum Nachdenken – das hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Damián trat zwei Schritte zurück, atmete tief ein, nahm Anlauf und sprang über den Abgrund.
Seine Panik dauerte nur einen Wimpernschlag. Schon war er auf der anderen Seite und sein Cousin fing ihn auf, um verräterische Geräusche zu vermeiden. Einen Augenblick später stand Damián in der Schreibstube. Ein vertrauter Geruch stieg ihm in die Nase, nach altem Parkett, frischem Bohnerwachs und Tinte. Er hatte sich noch nicht wieder ganz von seinem Sprung erholt, da überfiel ihn Wehmut. Würde er irgendwann wieder so leben wie früher? Könnte er jemals wieder ein normales Leben führen? Schwierig zu sagen. Mit jedem Tag, der verging, ließ er seine alte Existenz weiter hinter sich – nie hätte er gedacht, dass er eines Tages in das Hauptquartier der Grauen Legion einbrechen würde, um die Aufzeichnungen seines eigenen Vaters zu stehlen. Und jetzt stand er hier und schickte sich an, wie ein Dieb die Tür zu Amanóns Arbeitszimmer aufzubrechen! Welche Überraschungen hielt die Zukunft wohl noch für ihn bereit?
Bei diesem Gedanken schweifte sein Blick zu Maara. Er konnte nicht leugnen, wie sehr ihre flüchtige Berührung ihn beschäftigte. Und das, obwohl er in der wallattischen Prinzessin bisher nur eine Leidensgenossin gesehen hatte … Maara war sehr hübsch, unbestritten, aber sie waren so verschieden, dass eine Liebesbeziehung absurd schien.
Genauso absurd, wie mitten in der Nacht in ein Gebäude einzubrechen, in dem er bis vor kurzem gearbeitet hatte.
Josion bewegte sich auf die Tür zu, und das Geräusch seiner Schritte riss Damián aus der Träumerei. Sein Cousin legte ein Ohr an das Holz und hob warnend die Hand, bevor er den Knauf drehte. Das Schloss war nicht verriegelt, genauso wie Damián es vermutet hatte. Sie befanden sich in einer Abstellkammer neben einem Besprechungszimmer. An den Wänden stapelten sich Stühle, Papiervorräte und verstaubte Akten. Hier waren sie verhältnismäßig sicher, was im Rest des Gebäudes
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