Die Götter 2. Das magische Zeichen
den sie mit ihrem Sohn gehabt hatte? Oder wollte sie ihr, der Jüngsten, einfach zeigen, dass sie sie mochte? Wie dem auch sei, Lorilis fühlte sich durch ihre Freundlichkeit ermutigt.
» Und wie funktioniert das, diese Entsinnung? Kannst du sie noch immer benutzen? «
» Seit dem Verschwinden des Jal nicht mehr, nein. Und auch vorher beherrschte ich sie nur unzureichend. Es war eine Magie, die den Göttern vorbehalten war. Sie bestand darin, die Gedanken von Menschen zu lesen, sozusagen ihren Geist auszuspionieren. Im Zustand der Entsinnung konnte man sehen, woran ein Mensch gerade dachte, wo genau auf der bekannten Welt er sich befand und Ähnliches. Für Götter oder Dämonen war das nicht einmal mit Anstrengung verbunden, sie erhielten diese Nachrichten ständig, so wie wir atmen, ohne groß darüber nachzudenken. «
» Es klingt anders als das, was ich kann « , meinte Lorilis. » Ich sehe eher … Bilder aus der Vergangenheit. «
Zejabel runzelte die Stirn, und plötzlich erblasste Lorilis. Sie hatte zugegeben, dass sie tatsächlich über magische Kräfte verfügte. Würde die Zü sie so lange bedrängen, bis sie ihr von der Vision des Schiffbruchs erzählte? Vermutlich nicht. Die einstige Kahati dachte einen Moment nach, bevor sie weitersprach.
» Stimmt, das ist etwas anderes. Die meisten Götter interessieren sich nicht für die Vergangenheit, sondern nur für die Gegenwart. Zuïa stöberte nie in den Erinnerungen der Menschen. Es war keine Frage des Könnens, ich glaube vielmehr, dass die Vergangenheit nur für uns Sterbliche von Interesse ist. Wir wollen, dass man sich an uns erinnert, und darum pflegen wir das Andenken an unsere Vorfahren. «
Das Mädchen konnte dieser weisen Bemerkung nur zustimmen. Zejabel erstaunte sie immer mehr. Die scheinbar unerbittliche Kämpferin war tiefgründig und einfühlsam, auch wenn man es ihr nicht ansah. Immer mehr freundete sie sich mit dem Gedanken an, Zejabels Hilfe anzunehmen. Vielleicht konnte sie so die Gefahren dieses Experiments verringern.
» Und was ist mit der Zukunft? « , fragte Lorilis neugierig. » Konnte man im Zustand der Entsinnung auch in die Zukunft sehen? «
» Nein, nur die Undinen aus dem Karu kannten die Zukunft. Sie machten damals die Prophezeiung vom Erzfeind. Den Rest der Geschichte kennst du ja … Usul trug zwar den Beinamen ›der Wissende‹, aber seine Offenbarungen konnten den Lauf der Dinge verändern. Oft bewirkten sie das genaue Gegenteil von dem, was er ursprünglich vorhergesagt hatte. Wenn wir ihn wiederfinden, dürfen wir ihn nur nach der Gegenwart fragen. «
» Die Götter sind für die Gegenwart zuständig, die Magier für die Vergangenheit « , fasste Lorilis zusammen.
Zejabel nickte. Das Mädchen hatte das seltsame Gefühl, dass sie, ohne es zu wissen, eine erste Lektion erteilt bekommen hatte. Sie runzelte die Brauen, beschloss dann aber, dass es wohl nicht zu ihrem Nachteil war.
» Also gut « , sagte sie seufzend. » Was muss ich tun, um in die Vergangenheit zu sehen? «
» Konzentriere dich nur auf diese Manuskriptseiten « , riet Zejabel. » Frage dich nicht, welchen Schlüssel Amanón Damián wann und unter welchen Umständen gegeben hat. Versuche doch, zu dem Moment zurückzukehren, als seine Feder über das Papier glitt. Wenn du das schaffst, siehst du die Lösung vielleicht vor dir. «
Es klang ganz einfach, und Lorilis beschloss, es zu probieren. Sie nahm eine der Manuskriptseiten in die Hand und konzentrierte sich. Große Mühe bereitete ihr diese Übung nicht. Seit Lorilis auf Ji vom Blitz des Hexers getroffen worden war, waren ihre Sinne wesentlich schärfer. Bald erschienen die Energieströme des Universums vor ihrem geistigen Auge, so deutlich, wie man Adern unter der Haut sieht. Sie waren so zahlreich und so mächtig, dass der Kaulanerin ganz schwindlig wurde.
Sie besann sich und konzentrierte sich wieder auf das Papier in ihrer Hand. Selbst mit geschlossenen Augen konnte sie es sehen, wie es niemand sonst sah. Intuitiv spürte sie, welche Form es hatte, wie groß es war, wie dick. Sie fühlte seine raue Oberfläche und hörte es leise in ihren Fingern rascheln. Lorilis roch auch seinen Duft, den Duft des Farns, aus dem es gemacht war und der vor ewigen Zeiten im Wald von Lorelia herangewachsen war. Wenn sie sich ein wenig anstrengte, konnte sie die wilde Pflanze aus jener fernen Vergangenheit sogar sehen.
Doch von dem Blatt Papier gingen noch andere Energieströme aus – Ströme, die sich von
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