Die Götter 2. Das magische Zeichen
den ersten unterschieden. Der stärkste wies hinunter in den Laderaum des Schiffs und weiter noch in die Tiefen des Ozeans. Lorilis spürte, dass sie ihm nachgehen musste. Sie tauchte ein, hinab in die Vergangenheit des Papiers. Es ging rückwärts in der Zeit, angefangen von dem Moment, als sie das Blatt wenige Augenblicke zuvor vom Stapel genommen hatte. Sie sah Damián, wie er sich den Kopf über die Geheimschrift zerbrach, sah ihn das Blatt in seiner Tasche quer durch Lorelia tragen, sah, wie er es von Amanóns Schreibtisch im Hauptquartier der Grauen Legion nahm, wie es von Männern mit einem rätselhaften Zeichen auf der Stirn angefasst wurde, sah es viele Jahre lang versteckt in einem Schrank liegen … Als Amanóns Feder mit schwarzer Tinte über seine Oberfläche glitt, hielt sie inne.
Oder bildete sie sich das alles nur ein? Lorilis hätte geschworen, dass es Wirklichkeit war. Selbst durch den Nebel ihrer Vision kam ihr die Szene lebensecht und glaubwürdig vor. Amanón saß an einem Tisch und schrieb und schrieb. Er unterbrach seine Arbeit nur, um die Feder in ein Tintenfass zu tauchen. Lorilis sah ihn nicht ganz so deutlich, als würde sie ihm über die Schulter blicken, aber doch deutlich genug, um zu erkennen, dass er keine Verschlüsselungstafel gebrauchte. Er schrieb die Worte nieder, so wie sie ihm in den Sinn kamen! Der Schlüssel war entweder unglaublich einfach, oder Amanón hatte komplett den Verstand verloren und schrieb wirres Zeug.
In diesem Moment unterbrach ihn ein Klopfen an der Tür. Eine Frau von außergewöhnlicher Schönheit trat in das Arbeitszimmer, begleitet von einem kleinen Jungen. Lorilis erkannte Eryne, die sie auf den Gemälden in der Burg gesehen hatte. Amanóns Frau machte ein ernstes Gesicht und wirkte zutiefst erschüttert.
» Ich … ich glaube, ich habe ihn wiedergefunden « , sagte sie.
Bei diesen Worten legte Amanón das Papier in eine Schublade, und Lorilis wurde aus der Szene herausgeschleudert. Schlagartig kehrte sie zurück in ihre eigene Zeit. Irgendwer oder irgendwas verbannte sie aus dieser Vergangenheit, die nicht für ihre Augen bestimmt war! Sie konzentrierte sich noch einmal mit aller Kraft und sah abermals die Energieströme, die das Wesen des Blatts ausmachten. Erst jetzt bemerkte sie, dass viele von ihnen zum Himmel aufstiegen. Lorilis wurde von einem heftigen Gefühl überwältigt, noch stärker als das, was sie beim Anblick von Amanón empfunden hatte.
Erst als sie die Augen wieder öffnete, merkte sie, dass sie kurz davor war zu ersticken. Zejabel, die immer noch neben ihr saß, begriff sofort, was los war, und versetzte ihr einen kräftigen Schlag auf den Rücken. Nun konnte Lorilis zwar wieder atmen, aber die Todesangst war noch nicht wieder abgeklungen. Fast wäre sie in der Bilderflut ertrunken. Sie hatte sich so weit in die Vergangenheit gewagt, dass sie beinahe nicht mehr zurückgekehrt wäre.
» Und, konntest du etwas sehen? « , fragte Zejabel, als sie sich wieder etwas beruhigt hatte.
Lorilis nickte. Hoffentlich merkte Zejabel nicht, dass sie nicht vorhatte, ihr alles zu berichten.
» Ich sah, wie Amanón das Blatt beschrieb « , antwortete sie. » Aber über die Geheimschrift konnte ich nichts herausfinden. «
Zejabel sah sie eine Weile wortlos an. Vielleicht witterte sie eine Lüge, aber die Unruhe und der ausweichende Blick des Mädchens konnten auch damit zusammenhängen, dass sie so unsanft wieder zu sich gekommen war.
» Ruh dich einen Moment aus « , murmelte sie schließlich. » Ich sage Damián Bescheid. «
Lorilis nickte und streckte sich auf ihrer Koje aus. Etwas Ruhe würde ihr in der Tat guttun. Außerdem musste sie dringend über das Erlebte nachdenken.
Von einem war sie fest überzeugt: Wenn sie den Energieströmen nach oben gefolgt wäre, hätte sie in die Zukunft sehen können!
Alle hatten gesehen, wie Zejabel zu Lorilis in die Kajüte gegangen war, und warteten nun auf das Ergebnis ihrer Bemühungen. Als die Zü den anderen berichtete, dass Lorilis den Schlüssel für die Geheimschrift nicht hatte finden können, war die Enttäuschung groß. Vor allem Damián haderte damit, dass er sich nun einzig auf sein Gedächtnis verlassen musste, um die Aufzeichnungen seines Vaters zu entziffern. Doch zugleich war ihm klar, welche Gefahr Lorilis eingegangen war, und deshalb beschloss er, sie nicht mehr um diese Art von Gefallen zu bitten. Die anderen stimmten ihm zu: Niemand wollte daran schuld sein, wenn dem Mädchen etwas
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