Die Götter von Freistatt
sich an das splitterige Geländer des alten Piers und starrte mit leerem Blick auf den goldenen Schimmer, den die untergehende Sonne auf das Wasser zauberte. Vielleicht wünschte er sich unbewußt, er könnte eins werden mit dieser Schönheit und seine Verzweiflung vergessen. Ich brauche bloß über dieses brüchige Geländer klettern und mich fallenlassen, dachte er. Er stellte sich vor, wie das Wasser über ihm zusammenschlug, und er schließlich von allem Leid befreit sein würde.
Doch dann blickte er hinunter und schauderte, nicht nur wegen des kühlen Windes. Erst jetzt sah er, was alles hier herumtrieb: Abfälle, Überreste von so mancherlei, das einst gelebt hatte - der Kanal vom Schlachthaus mündete ganz in der Nähe in dieses Gewässer - und Exkremente. Lalo wurde übel bei dem Gedanken, daß dieses Wasser ihn berühren könnte. Er wandte sich ab, stapfte den Pier zurück an Land und lehnte sich an eine baufällige Hütte, die die Fischer hin und wieder noch benutzten.
Es ist wie alles andere, das ich sehe, dachte er düster. Was von außen am schönsten aussieht, ist innerlich am häßlichsten.
Ein Schiff glitt majestätisch aus dem Hafen heraus, vorbei am Leuchtturm und verschwand um die Landspitze. Lalo hatte daran gedacht, auf einem solchen Schiff anzuheuern, aber als Matrose hatte er keine Erfahrung und für einen einfachen Seemann fehlte ihm die körperliche Kraft. Selbst der Trost des Weines war ihm verwehrt. In der Grünen Traube würde man ihn zu seinem Erfolg beglückwünschen, der jetzt unmöglich geworden war, während die Gäste des Wilden Einhorns bestimmt versuchten ihn zu berauben, und wenn sie festgestellt hatten, daß sein Beutel leer war, würden sie ihn zusammenschlagen. Nicht einmal Cappen Varra könnte er erklären, was ihm passiert war!
Die Planken, auf denen er saß, erzitterten unter schweren Schritten. Gilla! Lalo wartete auf ihre bittere Anklage, aber sie seufzte lediglich - erleichtert oder verärgert?
»Ich hatte gehofft, daß ich dich hier finden würde ...«
Ächzend ließ sie sich neben ihm nieder, nahm eine Steingutkanne mit schmalem Schnabel von ihrer Schulter und reichte sie ihm. »Trink, ehe es ganz kalt wird.«
Er nickte, nahm einen tiefen Schluck von dem mit Wein gemischten würzigen Kräutertee, dann einen weiteren, und stellte die Kanne ab.
Gilla hüllte sich in ihr Wolltuch, streckte die Beine aus und lehnte sich an die Hüttenwand. Zwei Möwen flogen über ihren Köpfen vorbei und stritten sich um ein Stück Fleisch. Eine größere Welle spülte an den Strand, dann herrschte wieder Schweigen.
In dieser Stille, gewärmt von Gillas Nähe und dem Tee, gelang es Lalo, sich zu entspannen.
»Gilla ...«, sagte er schließlich. »Was soll ich bloß tun?«
»Die beiden anderen Modelle taugten auch nichts?«
»Sie waren noch schlimmer als Zorra. Dann fing ich mit dem Porträt der Frau des Hafenmeisters an ... Glücklicherweise konnte ich die Skizze vernichten, ehe sie sie sah. Sie schaute darauf aus wie ihr Schoßhund!« Er nahm einen weiteren Schluck.
»Armer Lalo!« Gilla schüttelte den Kopf. »Es ist nicht deine Schuld, daß all deine Einhörner sich schließlich als Nashörner herausstellen!«
Er erinnerte an die alte Fabel vom Nashorn, das in einen Zauberspiegel schaute und ein Einhorn sah, sich darüber aber nicht freuen konnte. »Ist alles Schöne denn nur eine Maske für Verderbtheit? Oder ist es nur in Freistatt so?« Dann platzte er heraus: »O Gilla, ich habe dich und die Kinder enttäuscht und mehr noch! Wir sind am Ende, verstehst du? Ich kann nicht einmal mehr hoffen!«
Sie wandte sich ihm zu, berührte ihn aber nicht, als spürte sie, daß jeder Versuch ihn zu trösten, mehr wäre, als er ertragen konnte.
»Lalo ...« Sie räusperte sich und begann noch einmal. »Es ist schon gut - irgendwie werden wir es durchstehen. Und du hast uns nicht enttäuscht - du bist unserem Traum treu geblieben. Du hast die richtige Wahl getroffen - als wüßte ich nicht, daß ich und die Kinder es waren, die verhinderten, daß du tun konntest, wozu du bestimmst warst!
Außerdem ...«, sie versuchte, ihre Gefühle mit einem Lachen zu vertuschen, »... wenn es zum Schlimmsten kommt, kann ich für dich Modell stehen - natürlich nur, damit du in etwa die Haltung und die Grundlinien hinkriegst«, fügte sie etwas verlegen hinzu. »Nach all den Jahren bezweifle ich, daß du irgendeinen meiner Mängel nicht kennst ...«
Lalo stellte die Kanne ab und blickte Gilla an.
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