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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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nicht mehr ganz sicher, ob ich das ganze Getue um den Glauben dem Glauben an sich vorzog. Ich mochte die Messe, das Gepränge und die Riten. Kurt hatte es anfangs gar nicht gepasst, als ich hinten im Garten eine Madonnenstatue aufgestellt hatte. Auf protestantischem Boden behauptete ich meine katholischen Wurzeln. Wie auch immer, eine kleine dekorative Heiligenverehrung konnte uns nicht schaden. Mein Mann begnügte sich damit, sonntagmorgens im Bett in der Bibel zu blättern. Sein Glaube war zweifellos fordernder.
    „Eine heikle Position für einen modernen Philosophen.“
    „Alles hängt davon ab, ob wir von Religion oder vom Glauben sprechen. Neunzig Prozent der heutigen Philosophen sehen ihre Hauptaufgabe darin, den Menschen die Religion aus dem Kopf zu schlagen.“
    „Ich habe gelesen, dass Sie zu den Intellektuellen des Wiener Kreises gehört haben, Kurt. Sie wollten die Subjektivität ausmerzen beziehungsweise die Intuition. Ist das nicht eine Ironie, nachdem daraus auch die Psychoanalyse entstanden ist?“
    „Ich hatte Freunde und Kollegen beim Kreis, dennoch habe ich mich nicht zum Mitglied erklärt. Ich denke nicht, dass man ihre Forschungen auf diese Behauptung reduzieren kann. Außerdem wäre es mir lieber, wenn Sie mich weiterhin ‚Herr Gödel‘ nennen würden.“
    Theolonius war zu vertrauensvoll geworden und hatte die gelbe Linie überschritten. Kurt war gegen ausgefallene Theorien anderer Leute zwar nicht unbedingt allergisch, aber zwei Fauxpas reichten aus, auf dass er sich wieder in sein Schneckenhaus zurückzog: die Vertraulichkeit und die Vorstellung, man könne sich über ihn informieren, bevor man ihn persönlich kennenlernte.
    Oppenheimer, noch immer ein bisschen benommen von seinem Nickerchen, kam zu uns an den Tisch.
    „Ich bin der Idee der Psychoanalyse nicht abgeneigt – solange man mich nicht zwingt, mich selbst auf die Couch zu legen!“
    „Daran ist nichts Schändliches. Unser Freund Pauli macht seit Langem eine Analyse. Er unterhält eine langjährige Korrespondenz mit C. G. Jung.“
    Oppenheimer klopfte auf der Suche nach Zigaretten seine Taschen ab. Ich reichte ihm meine Schachtel. Auch Kitty saß auf dem Trockenen.
    „Ich frage mich noch immer nach der wissenschaftlichen Legitimation Ihres Berufs, Charles. Schließlich ist der Pantheon der Psychoanalytiker nicht so weit vom Reich der Engel entfernt.“
    Oppie war ein sehr viel hartnäckigerer Gegner als Jessup. Hulbeck, der sich eindeutig in seiner Haut nicht wohlfühlte, riskierte keinen Kampf.
    „Wollen Sie über die Arbeiten von Jung sprechen?“
    An meiner unsicheren Miene schätzte Charles meine Unwissenheit ab und sprang als Dozent ein. So verlor er vor allen Dingen nicht das Gesicht. Er erklärte mir, dass der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung von der Existenz absoluten Wissens ausging, bestehend aus einem kollektiven Unbewussten aus Archetypen, zu dem jeder Mensch unterbewusst Zugang hat. Archetypen sind Urbilder menschlicher Vorstellungsmuster, die allen Kulturen gemeinsam sind. Man kann zum Beispiel die Gestalt des Riesen aus Andersens Märchen in den Sagen der Indianer oder Papuaner wiederfinden. Die gesamte Menschheit teilt sich ein umfangreiches Repertoire universeller Bilder, die durch alle Gesellschaftsformen und Epochen hindurch Bestand haben. Diese archaische Suppe würzen wir mit unserer individuellen Erfahrung. Ich konnte darin kaum einen Unterschied zur Religion ausmachen: Man vertrieb Teufel und Engel aus dem Himmel, um Feen und Hexen einziehen zu lassen. Aber wenn ich mit dieser außersinnlichen Welt, die meinem Mann so am Herzen lag, kommunizieren sollte, war mir die Welt der Madonna doch tausendmal lieber. Denn auch das spröde Reich der Mathematik war mir noch nie sehr lustig vorgekommen. Egal, was diese tollen, ach so gebildeten Herren sagten – diese Geistesakrobatik war und blieb ein guter Vorwand, um sich nicht mit der Realität herumschlagen zu müssen.
    „Das kollektive Unbewusste, Gott, Vorstellungsmuster … Wie man die Welt der Ideen bezeichnet, interessiert mich wenig. Mein Ziel ist, mich ihr zu nähern. Auf geistigem Wege. Über logische Brücken. Oder von der Intuition geführt. Mein Unterbewusstsein zeigt mir den sinnvollsten Weg. Es durchläuft eine Menge Möglichkeiten, die weniger zensiert sind, und richtet einen Scheinwerfer auf eine bestimmte Vorstellung, die mein Verstand nur widerwillig erkundet hätte.“
    „Welchen Kriterien folgt denn dann Ihr Unterbewusstsein, um eine

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