Die Göttin der kleinen Siege
Leonard und Anna verpasst.
„Hast du mit Leo gesprochen?“
„Worüber?“
„Geht das jetzt immer noch so? Warum soll man es sich einfach machen, wenn es auch kompliziert geht? Ihr beide seid wirklich zwei Stutzer!“, sagte sie auf Französisch. „Ich habe nie begriffen, was du an diesem Trottel aus New York gefunden hast. Wie hieß er doch gleich?“
„William. Er hat letztes Jahr geheiratet.“
Leonard kam in die Küche.
„Das ist eine private Unterredung, junger Mann. Was schnüffelst du hier herum?“
„Ich weigere mich, Richardson anzubetteln.“
Tine wollte ihm mit der Hand das Haar glatt streichen, er entkam ihr. Er war nun zu groß für sie, ein letzter Bleistiftstrich am Türpfosten bewies es. Die alte Dame musste die Maler wohl ziemlich terrorisiert haben, damit sie die Messlatte nicht überstrichen.
Der französische Mathematiker streckte auf der Suche nach einem Nachschlag vom Dessert die Spitze seiner klassisch-griechischen Nase zur Tür herein. Ernestine zierte sich angesichts seiner Komplimente – zwanzig Jahre früher hätte sie ihn sicherlich zum Nachmittagssnack vernascht. Trotz ihrer Diskretion zerriss sich das ganze Viertel das Maul über ihren Appetit. Die argwöhnische Virginia hatte sie nie bei frischer Tat ertappen können. Und sie fürchtete die Untreue ihres Mannes weniger, als eine solche Perle zu verlieren. Doch Calvin war zu sehr auf seinen Ruf bedacht, um sich auf ein Abenteuer mit einer Bediensteten einzulassen; er beschränkte seinen Aktionsradius auf die Bars von Tagungshotels.
Tine beeilte sich, für ihren neuen Bewunderer einen Teller zu füllen und eine Flasche zu entkorken. Anna bot Sicozzi einen Stuhl an. Leo verbarg seinen Ärger nur schlecht – der Franzose zog das ganze Interesse der beiden Damen auf sich und drang in sein Territorium ein. Adams junior war in diesem Haus immer im Mittelpunkt gestanden und hatte mit seinen Eskapaden auch noch den letzten Rest Aufmerksamkeit eingefordert, der noch nicht ihm gegolten hatte. Und er verlangte, dass dies auch so bliebe. Er herrschte Anna an:
„So, du hast also den Auftrag, an Gödels Nachlass zu kommen? Seine Witwe ist mindestens dreihundert Jahre alt. Eine Überlebende des heldenhaften Nachkriegs-Princeton.“
Pierre Sicozzi beobachtete die junge Frau durch den rubinroten Inhalt seines Glases hindurch. Verlegen drehte Anna den Lyrikband in der Hand.
„Calvin hat eine entsprechende Andeutung gemacht. Sie muss eine wahnsinnig starke Persönlichkeit sein, wenn sie mit einem solchen Sonderling zusammengelebt hat.“
„Sie ist nicht immer pflegeleicht, aber sie geizt nicht mit Geschichten.“
„Als Dokumentarin sind Sie hautnah an der Geschichte dran.“
„Sie will uns die Archive nur widerwillig anvertrauen. Sie hat etwas gegen das akademische Establishment. Sie wurde nie sehr geschätzt, aber sie ist eine interessante Frau.“
Wie zu allem hatte Leo auch dazu eine Meinung.
„Gödel ist im MIT eine Ikone. Sein Porträt dient als Dart-Scheibe. Wir haben sogar einmal eine Fete veranstaltet – Gödel gegen Turing.“
„Wer hat gewonnen?“
„Unentschieden. Ein unentscheidbarer Satz, Professor Sicozzi.“
„Wenn die Schlacht wirklich stattgefunden hat, dann hat Gödel schon lange gewonnen.“
„Der Trostpreis für Turing war die Vaterschaft der modernen Informatik.“
„Gödel hat die Formallogik in ihre letzten Ecken getrieben. Der Engländer hat ihr eine Realität geschenkt, indem er eine Technik gezeugt hat.“
Der Franzose machte sich mit Appetit über seinen Teller her. Leo sah ihm zu, dann schwadronierte er weiter: „Auch so ein tragisches Mathematikerschicksal. Ein helles Gleißen, dann der Niedergang. Der eine ist umnachtet gestorben, der andere hat einen theatralischen Abgang gemacht. Er hat sich umgebracht, indem er einen arsengespickten Apfel gegessen hat. Vergiftet wie Schneewittchen!“
Anna traute sich nicht, ihn zurechtzuweisen, obwohl sie die Lebensgeschichte des englischen Logikers gut kannte. Er hatte sich nicht wegen der Mathematik getötet, sondern weil er von der britischen Regierung wegen seiner Homosexualität verfolgt worden war. Man hatte ihn einer barbarischen Hormonbehandlung unterzogen. Dennoch konnte dank ihm ENIGMA, die Verschlüsselungsmaschine der Deutschen, ausgeschaltet werden. Ohne Turing hätten die Alliierten die Informationsschlacht während des Zweiten Weltkriegs nicht gewonnen.
Leonard würde sich aber in seinem eigenen Kompetenzbereich nicht
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