Die Göttin der kleinen Siege
Gegebenheiten.“
Ich beschloss, das Gespräch auf weniger unwegsames Terrain zu lenken. Das erste Gebot einer heiteren Tafel war schon lange übertreten: „Bei Tisch redet man weder über Politik noch über Geld.“ Wenn sie jetzt auch noch mit Politik anfingen, wäre unsere kleine Feier ruiniert. Ich spielte den dicken Clown und schlug allen vor, an einer echten parapsychologischen Erfahrung teilzuhaben. Kurt nahm keinen Anstoß daran, wir machten dieses Spiel oft. Er sagte, in ferner Zukunft werde es unverständlich erscheinen, dass die Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts die physischen Elementarteilchen entdeckt hätten, aber die Möglichkeit und große Wahrscheinlichkeit der Existenz elementarer psychischer Faktoren nicht einmal in Betracht gezogen haben. Ich verstand wirklich nicht richtig, was er damit meinte, aber in Telepathie war ich sehr gut. Nach dreißig Jahren Zusammenleben war es ein Überlebensreflex, die Gedanken meines Mannes zu lesen. Es überraschte mich nicht, dass alle Gäste begeistert aufschrien, auch unser sonnengebräunter Guru.
„Seit einiger Zeit beschäftige ich mich mit ,Ptarmoskopie‘, der Weissagung aus dem Niesen. Ich erziele ausgezeichnete Ergebnisse.“
Der ganze Tisch lachte. Ich hatte es geschafft, Carl Gustav Jung wieder auf das Regal der wirren Werke zurückzustellen, das er nie hätte verlassen dürfen.
„Und wie nennt man die Wahrsagerei nach der Laune unserer Frauen?“
Ganz erfrischt von seinem Schläfchen, kam Erich Kahler zum Tisch zurück.
„Menschenverstand, Charles, Menschenverstand. Habe ich etwas verpasst?“
„Ich glaube, das Telefon klingelt, Adele.“
Ich lief ins Wohnzimmer und stolperte unterwegs über Penny, die auf der Treppe schlief. Ich tröstete sie mit einer Liebkosung. Welch ein schöner Nachmittag! Es machte mir solche Freude, Kurt so gesprächig und so fröhlich zu erleben. Ich drehte mich noch einmal um, um ihn lächeln zu sehen.
Leise legte ich wieder auf. Reglos stand ich da, ich lauschte den fröhlichen Stimmen aus dem Garten und sog diese letzten glücklichen Minuten in mich ein.
Als der Schatten der Pappel auf den Hund fiel, ging ich zu Kurt und legte ihm die Hand auf die Schulter. Alle verstummten. Bevor ich noch etwas gesagt hatte, sah ich, dass meiner Freundin Lili zwei Tränen über die Wangen liefen.
„Alberts Aneurysma der Bauchaorta ist geplatzt. Er wurde ins Krankenhaus von Princeton gebracht.“
45.
Gleich nach dem Kürbiskuchen lud Virginia ihre Gäste ein, es sich auf den Sofas bequem zu machen. Anna wollte die vielen Raucher meiden und besuchte Ernestine in ihrem Reich. Die Küche war renoviert, sie glänzte von Chrom und Stahl. Nur die Sammlung der alten Steinguttöpfe des Hausmädchens hatte überlebt. Anna hatte dort ihre ersten Worte Französisch gelernt: sucre, farine, sel. Alles war blitzblank. Ernestine wirkte so lässig, aber sie legte militärischen Drill an den Tag. Wenn sie aufräumte, durfte ihr keiner zwischen die Beine geraten. Doch Anna erfreute sich ihrer Gunst. Als Kind hatte sie viele Stunden zugeschaut, wie Ernestines Hände in Gummihandschuhen sich zu schaffen gemacht hatten. Sie hatte der Frau zugehört, wenn sie von ihrer Heimat erzählt, ihr Gedichte aufgesagt und den neuesten Tratsch im Viertel wiedergegeben hatte, oder Anna war lesend in der Küche gesessen, gewiegt von den kreolischen Liedern. Sie mochte auch Tines Ritual: Wenn sie mit dem Geschirr fertig war, genehmigte sie sich einen kleinen Punsch zu einer Zigarette.
Nun zog sie ihre Schürze aus und listete ihre Altersleiden auf. Anna protestierte der Form halber – Tine hatte schon über ihr Alter geklagt, als sie noch eine gut aussehende Nurse gewesen war, die allen zu Besuch weilenden Studenten den Kopf verdreht hatte.
„Haben Sie mein Geschenk ausgepackt?“
„Wo denkst du hin! Ich habe keine Minute für mich.“
Ernestine holte das Päckchen aus einer Schublade, die Brille aus einer anderen. Sorgfältig wickelte sie es aus – sie bewahrte ganze Stapel zusammengefalteten Geschenkpapiers in einer ihrer Schatzkisten auf. Sie streichelte das ledergebundene Buch, eine Anthologie der französischen Lyrik. Anna hatte schon immer gewusst, wie sie Ernestine eine Freude machen konnte.
„ Comment vas tu, mon bel oiseau ?“ – Wie geht es dir, mein Vögelchen. „Du bist ja ganz blass.“
Anna musste sich nicht in einer langen Beichte ergehen. Tine hatte keine einzige Episode des Nervenkriegs zwischen ihren beiden Ziehkindern
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