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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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nachsichtig gezeigt hatte angesichts der eigenwilligen Vorstellungen meines Mannes. Da Oskar taub war gegenüber solchen Gedankengängen, erschien er Kurt wie ein Blinder, der die Existenz von Farben leugnete, weil er nie welche gesehen hatte.
    Theolonius legte das Sakko ab und bot uns den Anblick seines Hemdes, das sich über seine Brustmuskulatur spannte. Die Damen lächelten halb spöttisch, halb gerührt von dieser „objektiven“ Realität, deren Aufrechterhaltung ihre Gatten schon lange aufgegeben hatten. Der Beau konnte sein Glück nicht fassen – mit viel Mut hatte er es auf sich genommen, das esoterische schwarze Schaf am Tisch zu sein, und hatte am Ende in einem Logiker, einem Ausbund rationaler Tugenden, einen Verbündeten gefunden. Doch das überraschte mich nicht so sehr. Laut Kurt durfte man unter der Prämisse der Vernunft nichts verwerfen. Was man heute als absurd betrachtete, konnte morgen vielleicht schon wahr sein.
    „Auch ich glaube an Engel. Jeder Mensch ist mit einem unsichtbaren, wohlwollenden Gefährten gesegnet.“
    „Gödel redet hier nicht von Löckchen und Harfen, Theolonius. Ihm geht es mehr um das philosophische Prinzip.“
    „Sie verwässern meine Worte, weil sie Ihnen Angst machen, Charles. Ich erahne die Existenz einer Welt, die sich unserer sinnlichen Wahrnehmung entzieht, und die Existenz eines speziellen inneren ‚Auges‘, das sie wahrnehmen kann. Wir besitzen einen Sinn für die Erfassung von Abstraktem, genauso wie wir ein Gehör oder einen Geruchssinn haben. Wie sollte man mathematische Intuition denn sonst erklären?“
    „Denken Sie an ein gegenständliches Körperorgan?“
    „Warum nicht? Einigen Mystikern galt die Zirbeldrüse als Sitz des Wissens.“
    „Bei den Hindu ist das dritte Auge, das innere, das Auge Shivas, das Zentrum von Weisheit und Erkenntnis. Zweifellos handelt es sich dabei um das dritte Auge des Menschen der Zukunft. Die Zirbeldrüse könnte der innere Fortsatz des noch schlummernden Organs sein.“
    Hulbeck war am Ende mit seiner Geduld. Er wandte ein, diese Drüse sei ein Organ zur Hormonsteuerung und kein Radarschirm für Cherubim. Als Beweis führte er die Obduktionen an, die er während seines Medizinstudiums durchgeführt hatte. Ich verstand nicht, inwiefern dies ein Unterpfand der Wahrheit sein sollte, aber ich genoss die Ausbrüche unseres unberechenbaren Dadaisten gegen diesen „Schwachsinn mit dem dritten Auge“. Charles gefiel sich zu sehr als Polemiker, auch auf die Gefahr hin, sich einer Meinung entgegenzustellen, die er selbst hätte vertreten können. Es war herrlich zu erleben, wie er aus seinem Hang zur Opposition gezwungen wurde, die Rolle des Konservativen zu spielen. Theolonius labte sich daran wie an Milch und Honig, während mein Mann sich ostentativ den Magen massierte.
    „Wer einmal in den Genuss des gleißenden Lichts der Mathematik gekommen ist, der Gespräche der Engel, will immer wieder in dieses Reich zurückkehren. Und wenn ich als Verrückter dastehe, Hulbeck, ist mir das auch einerlei.“
    Der Engel des Schweigens und der Dämon der Verlegenheit stürzten beide auf den Gartentisch herab. Kurts Freunde mochten es nicht, wenn er ohne jede Scham die Diagnose übernahm, die alle von ihm erstellten. Wenn er solche Ideen für sich behielt, waren es eben Schrullen, die als gesellschaftlich akzeptabel galten. Wenn er sie laut aussprach und das Ganze so logisch wie auch persönlich ableitete, konnte man den Begriff Wahnsinn gerade noch umschiffen. Aber wenn er sich selbst als verrückt bezeichnete, konnte sich niemand mehr hinter der Höflichkeit verstecken.
    Penny legte ihren weichen Kopf auf meinen Schoß. Ich streichelte sie und überlegte, wie ich die Hitze aus der Debatte nehmen konnte. Kitty, die dafür ein Händchen hatte, schützte Naivität vor wie alle Frauen, die Übung darin besaßen, kriegerische Geister zu besänftigen.
    „In dieser Behauptung sehe ich eine deprimierende logische Folge: Wenn ich an Engel glauben soll, muss ich mich auch mit der Existenz von Dämonen abfinden.“
    „Nach den alten Schriften soll die Unendlichkeit nur zweiundsiebzig Engeln Platz bieten. Ich stände dann unter der Höllenfuchtel des Geistes Buer, eines zweitklassigen Dämonen. Buer lehrt Natur- und Moralphilosophie, Logik sowie die Wirkungen von Kräutern und Pflanzen. Zweitklassig! Das ärgert mich ein wenig!“
    „Sind Sie gläubig, Herr Gödel?“
    „Ja, ich betrachte mich als Theist.“
    In dieser Lebensphase war ich mir

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