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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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Brief nach dem anderen auf und tauchte in diese unbekannten Worte ein. Von Zeit zu Zeit streckte Elizabeth den Kopf ins Wohnzimmer und machte sich dann diskret wieder an die Arbeit.
    Ich fand nicht die Spur von Gehässigkeit gegen mich. In vierzig Jahren Briefwechsel hatte sie nicht ein einziges Mal von mir gesprochen, sie hatte mich nicht einmal erwähnt. Diese Briefe brannten wie Stiche in meinem Herzen.
    „Sind Sie fertig, Adele?“
    Ich drehte Elizabeth mein entstelltes Gesicht zu. Es waren meine ersten Tränen seit Kurts Tod. Sie nahm mich in den Arm und wiegte mich, ohne mich mit unnützen Worten zu belästigen. Ich klammerte mich an sie, trunken vor Wut und Schmerz zugleich. Ich taumelte vor Verzweiflung. In meinen Schläfen schlug der Puls die Trommel meines rasenden Herzens. Aber ich wollte nicht gehen. Nicht gleich.
    „Ich habe für die beiden nicht existiert, Elizabeth. Ich habe nie existiert.“
     
    Als ich mich wieder beruhigt hatte, befreite ich mich aus Elizabeths Umarmung. Mühsam sammelte ich die Briefe ein, die auf dem Boden verstreut waren, und warf sie ins Feuer.

55.
    Anna klopfte ihre Kleider ab und schüttelte ihr verschneites Haar, bevor sie die Eingangshalle des IAS betrat. Mit dieser verspäteten Kältewelle hatte sie nicht gerechnet, sie zitterte in ihrem zu leichten beigefarbenen Mantel. Die Natur würde heute Trauer in Weiß tragen. Anna müsste daran denken, ihre Wintersachen wieder hervorzuholen. Ohne ihr Fehlen zu entschuldigen, hatte sie seit Adeles Begräbnis keinen Fuß mehr in ihr Büro gesetzt. Sie war nicht ans Telefon gegangen, sie hatte ihre Post nicht geöffnet. Ihre plötzliche Rückkehr bliebe nicht folgenlos. Aber wie Adele vielleicht geschlossen hätte: „Leckt mich doch am Arsch!“
     
    Am Morgen hatte Elizabeth Glinka bei ihr angerufen. Anna hatte sich gerade fertig gemacht, um Adele Gödel zu besuchen wie jedes Wochenende seit Weihnachten. „Miss Roth?“ Anna hatte schon gewusst, was nun kommen würde. Sie hatte sich hingesetzt und sich ihren Qualen überlassen: Sie hatte sich nicht von Adele verabschiedet.
    So wenige Menschen waren bei ihrer Beerdigung gewesen. Ein paar angegraute Schläfen, die es eilig gehabt hatten, wieder wegzukommen, hatten eine Handvoll alter Frauen in Schwarz am Arm geführt. Schlotternd hatte sie sich an Elizabeths Arm geklammert. Sie erinnerte sich kaum noch daran. Der Sarg war in einem langen Wagen gekommen. Hatte Calvin Adams eine Trauerrede gehalten? Sie erinnerte sich nicht. Sie hatte rosarote Rosen auf den Sarg geworfen, bevor die Erde ihn bedeckt hatte. Es war nicht die Jahreszeit für Kamelien gewesen. Die katholische Trauerfeier war steif und schnell zu Ende gewesen. Elizabeth hatte Anna um Rat für die Musik gefragt, Anna hatte als Verbeugung vor dieser verlorenen Wienerin Ich bin der Welt abhandengekommen vorgeschlagen, ein Rückert-Lied von Gustav Mahler. Während der Feier hatte sie sich gesagt, dass sie besser James Brown gewählt hätte, damit Gladys die leere Kapelle mit ein paar Zuckungen ihres schwarzen Angorapullovers hätte beleben können – Barbie besaß nämlich auch einen schwarzen Pulli. Warum erinnerte Anna sich an so ein jämmerliches Detail?
    Adele war bis zum Schluss bei klarem Verstand gewesen. Ihre letzten Worte hatten die Krankenschwestern nicht verstanden, sie hatte Deutsch gesprochen. Anna war sicher, dass sie an ihren Mann gerichtet gewesen waren. Seit dem 8. Februar ruhte sie nun unter dem grauen Marmorgrabstein an seiner Seite. In das offene Buch war eingraviert:
    Gödel
    Adele T.
Kurt F.
1899–1981
1906–1978
    Von nun an würde sie auf der linken Seite des Bettes schlafen.
     
    Der Portier des Instituts machte Anna ein Zeichen, näher zu kommen. Er schien so alt zu sein wie das Gebäude selbst. Er trat aus seiner Kammer und zeigte damit seine Freude, sie wiederzusehen. „Man hat sich Sorgen um Sie gemacht.“ Anna hatte keine Zeit nachzufragen, wer „man“ war, denn er stellte für sie ein umfängliches Paket auf den Tresen. Sie blies auf ihre klammen Finger und zog den beiliegenden Umschlag heraus. Die Karte mit der kindlichen Schrift war von Elizabeth Glinka unterzeichnet. „Hiermit schicke ich Ihnen in Adeles Auftrag ein Geschenk und einen Brief. Seien Sie nicht traurig. Adele war es nicht. Sie wollte gehen.“ Anna musste unweigerlich lächeln. Traurig war sie, aber dieses Gefühl war nun erträglich. Es speiste sich aus Erfüllung, nicht aus Reue – die Trauer nach dem Ende des Fests.

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