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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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Mathematik.“
    „Wen werden Sie das nächste Mal anrufen? Ihren Mann?“
    „Er mochte es nie, wenn man seinen Mittagsschlaf störte.“
    „Wollen Sie denn nicht einmal wieder mit ihm reden?“
    „Ich habe ihm die Hand in den Nacken gelegt. Er hat genickt. Worte waren nicht nötig.“
    Anna nahm einen Schluck von dem widerlichen Schaumwein und zwang sich, nicht das Gesicht zu verziehen.
    „Werden Sie mich anrufen, wenn ich auf die andere Seite gewechselt bin?“
    „Ich werde ein Fenster offen lassen, für alle Fälle.“
    Kurz dachte sie, die alte Dame würde sie küssen. Aber ein Rest Scham verhinderte es.
    „Fröhliche Weihnachten, Adele!“
    „Frohe Weihnachten, Fräulein Maria“, sagte Adele auf Deutsch und legte ihr eine Girlande um wie einer Hawaiianerin, die sich verlaufen hatte.

54.
1978
Allein
    „Wiege und Sarg, Mutterschoß und Grab –
in unserem Gefühl fließen sie ineinander,
werden sich beinah gleich.“
Klaus Mann, Der Wendepunkt
     
     
    „Ich kann das sehr gut an Ihrer Stelle erledigen.“
    „Das muss ich selbst machen, meine Liebe.“
    Sie tätschelte mir die Hand.
    „Also, Zeit für einen kleinen Snack!“
    Elizabeth ging in die Küche und ließ mich mit den Bergen von Unterlagen allein, die sich auf dem Wohnzimmerteppich stapelten. Ich musste meinen ganzen Mut für diese letzte Prüfung zusammennehmen.
    Bei Kurts Beerdigung waren nur sehr wenige Leute gewesen. Ein paar angegraute Schläfen, die es eilig gehabt hatten, wieder wegzukommen, hatten eine Handvoll alter Frauen in Schwarz am Arm geführt: Dorothy ohne Oskar. Lili ohne Erich. Die Männer gehen früher, so ist es nun mal. Schlotternd hatte ich mich an Elizabeths Arm geklammert. Der Sarg war in einem langen Wagen gekommen. Hatte jemand bewegende Worte gesprochen? Ich erinnerte mich nicht. Im Institut aber hatten sie es sicherlich auf sich genommen, eine Rede zu halten. Nach der Fahrt zur Aufbahrungshalle des Bestattungsinstituts Kimble erinnerte ich mich an fast gar nichts mehr. Nur an Blumen. Ich hatte rosarote Rosen auf den Sarg geworfen, bevor die Erde ihn bedeckt hatte. Es war nicht die Jahreszeit für Kamelien gewesen. Seit dem 19. Januar ruhte Kurt unter einem Grabstein aus dunkelgrauem Marmor, meine Mutter lag direkt daneben. Sie störte ihn nicht, sie hatte schon immer einen bleischweren Schlaf gehabt.
    Elizabeth kam mit dem Tablett zurück. Wir tranken Tee und knabberten an trockenen Keksen, während wir dem wohligen Knistern im Kamin lauschten. Wir waren schon im Voraus von den bevorstehenden Mühen erschöpft.
    „Wie wollen Sie vorgehen, Adele?“
    „Wir müssen auf jeden Fall die chronologische Ordnung einhalten. Kurt hat schon einige Kartons beschriftet. Ansonsten hat er keine speziellen Anweisungen hinterlassen. Außer für die Briefmarken – die soll Rudolf verkaufen. Bestimmt würde sein Bruder am liebsten den ganzen Nachlass verkaufen, aber diesen Gefallen werde ich ihm nicht tun.“
    „Und der Rest?“
    „Ich sortiere alles aus, Sie ordnen es.“
    „Wenn man dieses Durcheinander sieht, würde man nie glauben, dass Ihr Mann so gewissenhaft war, wie ich ihn kannte.“
    „Er hat alles aufbewahrt. Er hat darin wohl eine Logik gesehen.“
    Ein letztes Aufräumen für Kurt. Mehr hatte ich in meinem Leben nicht für ihn tun können. Die Welt aufräumen, damit diese vermaledeite Entropie ihn nicht verschlang. Haben alle Frauen dasselbe Schicksal? Paaren sie sich aus Liebe oder aus Sicherheitsdenken, um am Ende denjenigen zu halten, der ihnen hätte Halt geben sollen? Ist das unser aller Los? Unsere Brüder, Väter, Liebhaber, Freunde – sind wir dazu da, sie aus der Klemme zu ziehen? Hat uns Gott zu diesem irrsinnigen Zweck Brüste und ein breites Becken gegeben? Sind wir lediglich Rettungsbojen? Was bleibt uns danach, wenn es niemanden mehr zu retten gibt?
    Das Andenken ordnen.
     
    „Wenn es nicht nur Gekritzel ist, dann muss es Steno sein. Ich werde noch verrückt!“
    „Sie sollten sich ein bisschen ausruhen, Adele. Seit drei Tagen machen wir das nun schon, es kann auch noch eine Weile warten.“
    „Ich möchte es lieber gleich hinter mich bringen. Dieses Geschreibsel war wichtig für ihn.“
    Wir kamen nicht voran. Ich konnte mich nicht auf diese Unterlagen stürzen, ohne ein Stück der Vergangenheit daraus zu bergen – ein Foto, eine handschriftliche Notiz, einen Zeitungsartikel. Kein Mensch hätte dieser toxischen Infusion aus Nostalgie standgehalten. Das war keine Bestandsaufnahme mehr, das war

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