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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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hatte oft meine Launen auf sich gezogen. Die Alte durfte nicht in Frieden ruhen. Die Alte. Ich war inzwischen selbst eine. Warum beschäftigte mich die Meinung einer Toten? Ich hatte diese Wahrheit immer gemieden: Ich war wie sie nur ein Klotz.
    „Was soll ich damit machen?“
    Elizabeth hielt einen Stapel seiner Verstopfungs- und Körpertemperaturtagebücher hoch. Sie vermied es, sich darüber auszulassen, sie hatte meinen Mann gepflegt, ohne je seine Absonderlichkeiten zu kommentieren.
    „Ich würde sie am liebsten ins Feuer werfen, aber irgendjemand würde mir das zum Vorwurf machen. Diese Eigenheiten waren auch ein Teil seiner Persönlichkeit.“
    „Ich kann mir das Gesicht desjenigen vorstellen, der sie entdeckt!“
    „Dabei kann er sich dann von allem Übrigen entspannen.“
    „Haben Sie keine Angst, dass er für ein …“
    „Sehen Sie doch – er hat die Rechnung für unser Hochzeitsessen aufgehoben! Ich kann nicht glauben, dass er ganz Sibirien mit diesem Beleg im Koffer durchquert hat.“
    „Vielleicht war er sentimental.“
    „Er wollte mir zum Schluss die Endabrechnung präsentieren.“
    „Er hat Sie so geliebt, Adele!“
    „Das hier ist auch gut – eine Mahnung, den noch ausstehenden Beitrag für die Mathematical Society zu begleichen. Kurt grauste es vor Schulden. Er musste es sein Leben lang bereut haben. Ich sollte dieser Gesellschaft einen Scheck schicken.“
    „Behalten Sie Ihr Geld, Adele, Sie werden es brauchen. Ich habe hier einen Kaufbeleg über etwas, das Principia mathematica heißt.“
    „Das war seine Bettlektüre, als wir uns kennengelernt haben. Legen Sie ihn zusammen mit seiner Doktorarbeit in die Schachtel mit der Aufschrift 1928/29 .“
    Ich kramte in verblassten Postkarten. Maine 1942. Wir hatten sie zusammen gekauft, aber nie verschickt.
    „In welche Schachtel soll ich Ihre deutschen Pässe legen?“
    Ich schlug Kurts Pass auf. So jung, wie er aussah, wirkte er wie ein ganz anderer. Der Nazi-Adler hatte seine Kotklumpen auf der Seite abgelassen. Ich gab Elizabeth die Dokumente zurück, ohne meinen Pass überhaupt anzusehen.
    „1948. Die Urkunde über die Staatsbürgerschaft.“
    „Mein Gott, Adele, wie hübsch Sie waren! Dieses Foto kannte ich gar nicht.“
    Ich betrachtete kurz das vergilbte Bild, auf dem eine junge Frau mit einem leichten Lächeln posierte.
    „Legen Sie es unter Sonstiges ab.“
    „Wollen Sie es nicht behalten?“
    „Ich bin nicht mehr diese Frau, Elizabeth.“
    „Aber natürlich sind Sie es!“
    Ich sah weiter die Dokumente durch. Ich überflog einen Brief seines Bruders, den er ihm ins Sanatorium geschickt hatte: Schachtel 1936 . Eine Fahrkarte für den Dampfer ab Japan: Schachtel 1940 . Ein schwerer Ordner mit Bankunterlagen anlässlich des Hauskaufs: Schachtel 1949 ; das Haus war abbezahlt und weiterverkauft. Ein kleiner abgenutzter Fetzen Papier rührte mich an: ein Garderobenticket aus dem Nachtfalter . Schachtel 1928 .
    „Da sind noch die Briefe von Marianne Gödel.“
    Ich seufzte.
    „Ich muss alle durchlesen.“
    „Das müssen Sie doch nicht, Sie quälen sich!“
    „Würden Sie mich bitte allein lassen. Ich brauche eine Weile für mich.“
    „Ich werde Ihre Umzugskartons fertig packen. Wollen Sie wirklich nichts mitnehmen?“
    „Bringen Sie alles ins Möbellager. Sie haben das Zimmer in Pine Run ja gesehen, es gibt keinen Platz für sperrige Erinnerungen. Und das ist auch gut so.“
    „Soll ich wegen des Nachlasses das Institut anrufen?“
    „Nicht gleich, Elizabeth.“
    Was hatten sie sich denn in ihrer langjährigen Korrespondenz zu erzählen gehabt? Marianne war wohl über mich hergezogen. Er hatte mich kaum verteidigt, wie üblich. Ich war nie imstande gewesen, ihn zu inspirieren, seinen Geist zu stimulieren. Das war nicht meine Rolle gewesen, und ich bin deswegen auch nicht böse, aber hatte er seiner Mutter alle Erklärungen gegeben, die er mir verweigert hatte? Durfte sie sich in seinem Licht sonnen? Sie.
    Ich zog aufs Geratewohl einen Brief heraus. 1951, Glückwünsche zu seinem Gibbs-Preis. Die Sätze waren teilweise von der Zensur geschwärzt. In einem Brief vom November 1938, wenige Wochen nach unserer Hochzeit, ließ Marianne sich des Langen und Breiten über politische Betrachtungen und Gesundheitsratschläge aus. 1946, Nachrichten aus Europa, die Todesanzeige seines Patenonkels. 1961 antwortete sie ihm auf seine theologische Sicht der Welt. 48 Er hatte ihr also alles im Detail geschildert. Hektisch faltete ich einen

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