Die Göttin der kleinen Siege
die Autopsie eines Lebens.
Kurt war im Sessel zusammengerollt in seinem Krankenzimmer gestorben. Allein.
An was, an wen hatte er gedacht, bevor er losgelassen hatte? Hatte er nach mir gerufen? Hatte er mir vorgeworfen, nicht bei ihm zu sein? Das einzige Mal, dass ich nicht angelaufen gekommen war. Nur mein Körper, dieses groteske Gefäß, war daran schuld gewesen, er hatte mich zu einer Gefangenen gemacht. Der Nachtfalter war wieder eine Raupe geworden. Eine riesige Larve ohne Arme, um meinen Mann ein letztes Mal zu umarmen, ohne Stimme, um ihm zu sagen: „Es ist nichts, Kurtele. Das geht vorüber. Ein Löffelchen für den Weg, ich bitte dich.“
Ist er an Unterernährung gestorben, wie sie gesagt haben? Nein, eher an einem Betriebsunfall – er hat die Ungewissheit hinterfragt, er war von Zweifeln zerfressen gestorben. Er war der Arzt, der seine eigene Erkrankung beobachtet und feststellt, dass es dagegen keine Medizin gibt. Das Leben ist keine exakte Wissenschaft, alles fließt, ist unbeweisbar. Er konnte das Leben nicht Parameter für Parameter verifizieren, konnte die Existenz nicht axiomatisieren. Was hatte er gesucht, das nicht in seinem Herzen, seinem Bauch, seinem Penis vorhanden gewesen war? Er hatte beschlossen, sich nicht auf die Welt einzulassen und außerhalb zu stehen, um sie zu verstehen, diese Welt. Aber es gibt Systeme, von denen man sich nicht ausschließen kann. Albert hingegen wusste das. Sich vom Leben ausschließen heißt sterben.
„Adele, das hier habe ich lose in einem geschlossenen Ordner gefunden.“
Ich besah mir den kleinen Zettel – eine Reihe Zeichen, Axiome, Funktionen ohne Erläuterung, ohne Kommentar, so freudlos wie ein Tag ohne Musik. Dann sprang mir der letzte Satz ins Auge, er war ausgeschrieben: Axiom 4: P (E). Ein Gegenstand mit göttlichen Eigenschaften existiert notwendigerweise . Was hatte Gott hier zu suchen? Ich las die Beweisführung noch einmal, denn es schien eine zu sein. Aber ich konnte mit diesem Jargon nicht das Geringste anfangen. Wieder einmal seine Scheißlogik, diese Sprache, die ich nicht sprach: Eigenschaft positiv; wenn, und nur wenn; Eigenschaft konsistent .
„Ist es wichtig?“
„Das muss eine Art … Gottesbeweis sein.“ 47
Elizabeth las die Seite einmal mit, einmal ohne Brille. Verdattert – und sichtlich enttäuscht – gab sie sie mir zurück.
„Wir legen das unter Sonstiges ab.“
Welch ein Mangel an Demut! Was für ein Wahnsinn! Wie konnte er nur? In welche Bodenlosigkeit war er denn nur gefallen? Gott schätzte es wohl, ihn an seinem Tisch zu haben. Kurt könnte mit Ihm plaudern: „He, Vater, ich hab’ da einen echt guten Witz! Er wird dir gefallen. Ich habe deine Existenz bewiesen.“ Aber ob Gott Humor hatte? Sicherlich. Ansonsten hätten Kurt und ich uns nicht getroffen.
Ich musste mir eingestehen, dass ich erleichtert war. Diese blasphemische Aussage bestätigte es mir: Es war Zeit für Kurt gewesen, zu gehen. Unsere letzten Jahre waren die Hölle gewesen. Wie hätte ich es noch länger ertragen können, ihn so zu sehen. Eine unhaltbare Karikatur seiner selbst: Von einem mageren Mann war er zum Skelett geworden, von einem Genie zum Verrückten. War es auf einen Schlag geschehen, oder hatte er sich im unendlichen Niemandsland zwischen den beiden Zuständen verirrt? Für immer verloren im Raum-Zeit-Kontinuum.
Während all dieser Jahre hatte ich dennoch die Hoffnung nie verloren, ich hatte an das Mögliche geglaubt. Aber als Oskar ihn völlig erschöpft hinter dem Waschkessel gefunden hatte, hatte ich aufgegeben. Ich trauerte um alles, was möglich gewesen wäre. Um ein Ich, das nicht mehr existierte, um alles, was hätte sein können, um alles, was ich ohne ihn nie mehr sein würde. Wenn, und nur wenn, wir andere gewesen wären. Ich behielt ihn lieber so in Erinnerung: Er putzte seine Brille, um mein Dekolleté in diesem Wiener Kaffeehaus besser sehen zu können.
Das Unangenehme habe ich immer zuletzt angepackt. Ich hatte zwei Kartons mit der Aufschrift persönlich beiseite gestellt. Elizabeth und ich nahmen uns je einen vor. Darin würde ich keine Liebesbriefe finden. Die hatten wir in Wien zurückgelassen, wo sie verbrannt sind. Vielleicht würde ich ein paar Postkarten wiederfinden, die ich aus Europa geschrieben hatte, oder Fotos, die ich nie mehr angesehen hatte. Die Kartons würden jedoch eher die Briefe seiner „liebsten Mama“ beinhalten. Warum machte sie mir nach all den Jahren noch immer solche Angst? Sie
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