Die Göttin der kleinen Siege
übel, aber ich sah gern den goldenen Filter zwischen meinen Fingern. Es war eine lange Fahrt, allein war man nur selten. Ich litt unter diesem Mangel an Intimsphäre.
Um die Wartezeit zu verkürzen, bot eine Gruppe Musikanten der desinteressierten Menschenmenge an, ein Ständchen zu spielen. Ich sah mir die Passanten an und glaubte, vertraute Gesichter zu erkennen – da ging meine Mutter mit ihren geschäftigen, kleinen Schritten; Liesl, wie immer mit dem Kopf in den Wolken; Elisabeth schimpfte vor sich hin; mein Vater, mit dem ewigen Stumpen im Mundwinkel und seiner Leica um den Hals, sah die Welt durch eine Linse und suchte begierig nach Motiven. Ansonsten bekam ich gar nichts mit. Ich sollte sie nie wiedersehen, die Entbehrungen des Krieges sollten sie mir rauben, ihn und Elisabeth. Das letzte Bild, das ich von meinem Vater hätte, wäre das eines alten Mannes, rotgesichtig und schwitzend, der sich mühte, mit dem Kofferträger Schritt zu halten, und gerade noch knapp einen Zug erreichte, der uns für immer trennen würde. Ein Greis. Auf dem Bahnsteig lehnte er sich an eine Säule, um wieder zu Atem zu kommen. Neben ihm standen drei Frauen, die mir ähnlich sahen und in ihre Taschentücher weinten. Meine Augen waren trocken.
Nun, allein in dieser Ansammlung fremder Menschen, weinte ich endlich und gab dieser verdammten jiddischen Musik, die mir das Herz zerriss, die Schuld an meiner Rührung.
Irgendwo zwischen Krasnojarsk und Irkutsk,
den 25. Januar 1940
Meine Allerliebsten!
Ich schreibe diesen Brief mitten in Sibirien. Ich hoffe, dass ich ihn bei der Ankunft in Wladiwostok aufgeben kann. Meine Finger sind steif vor Kälte, ich kann den Bleistift nur mit großer Mühe halten. Diese Reise will nicht enden, sie ist so lang wie eine schlaflose Nacht. Ich habe in meinem Leben noch nie so gefroren, manche sagen, draußen herrschten 50 Grad minus. So etwas hätte ich nie für möglich gehalten. Die Wasserleitungen sind zugefroren, wir müssen uns mit Tee aus dem Samowar und mit meinem Eau de Cologne begnügen, um unsere Toilette zu machen, doch das Kölnischwasser geht schnell zur Neige. Ich träume von einem heißen Bad, von einer Gemüsesuppe, gefolgt von richtigem, erholsamem Schlaf unter einer Daunendecke. Tag und Nacht unterscheiden sich nicht, es ist dunkel, als würde die Sonne diese endlose Ebene meiden.
Wir dösen den ganzen Tag, gewiegt vom Schaukeln des Zugs. Wir kuscheln uns aneinander wie Tiere. Es gibt nichts zu tun. Ich habe meine Wollvorräte verarbeitet und den Müller-Kindern ein paar Socken geschenkt. Suzanna ist krank, sie hustet viel und will nichts essen. Um sie zu wärmen, massiere ich ihr die Füße. Sie ist wie ein Vögelchen. Keiner traut sich mehr, Musik zu machen, alle schweigen, benommen von Kälte oder Wodka. Sogar die beiden Müller-Buben regen sich nicht mehr. Wir bekommen grässlichen Borschtsch – Suppen, deren Ingredienzen ich lieber gar nicht kennen will. Kurt isst nichts. Ich hatte mir eine Fahrt mit der Transsib immer luxuriöser vorgestellt. Die Versorgung im Zug ist chaotisch, und er hält oft. In diesem Tempo kommen wir niemals rechtzeitig an, um unser Schiff noch zu erreichen.
Auf den Gängen geht das erschreckende Gerücht, dass auch die Vereinigten Staaten in den Krieg eintreten könnten. Kurt meint, dass sie daran keinerlei Interesse haben, Müller hingegen fürchtet, dass die Provokationen Japans Amerika zwingen könnten, ihre Neutralität aufzugeben, und dass uns damit der Weg über den Pazifik abgeschnitten ist. Ich verliere ein wenig von meinem üblichen Optimismus – sicherlich der Zuckermangel. Was würde ich nicht für einen Wiener Kaffee zu einem Stück Sachertorte geben! Gestern Abend habe ich sogar gebetet. Ich bete für Euch, alle meine Gedanken fliegen zu Euch.
Eure Adele
Ich wusste nicht einmal mehr, wie ich ein wenig Handwäsche machen sollte. Ich war völlig verdreckt. Nur die Kälte verhinderte, dass wir den Gestank rochen. Kurt überstand es mit einem parfümgetränkten Taschentuch auf der Nase, eingehüllt in seine Decken und alle Kleider obenauf. Ich zögerte stundenlang – ich sah sehr wohl, wie er nach meinem Pelz schielte. Aber ich wollte den Mantel lieber der Kleinen geben, die mir mit ihren blauen Lippen das Herz brach. Ihre Eltern wollten ihn erst nicht annehmen, schließlich aber gaben sie nach. Wir haben Suzanna eingepackt, seitdem geht es ihr besser. Ich hörte, wie ihr die Mutter ein jiddisches Wiegenlied sang – der
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