Die Göttin der kleinen Siege
spielte eine Weile mit den Tabletten, legte sie sternförmig aus, dann formte sie ein perfektes Viereck. Sie nahm zwei Pillen ein, den Rest gab sie wieder in das Röhrchen. Adeles Kommentare konnte sie sich mühelos vorstellen: Nachsicht, Fräulein. Sie legte sich hin und starrte Löcher in die Decke, die schon ganz verbraucht war von ihrer Schlaflosigkeit. Irgendwann einmal müsste sie sich aufraffen und ihre verwüstete Wohnung aufräumen. Auch wenn nie jemand zu ihr kam.
24.
1940
Fliehen
„Dass morgen die Sonne aufgeht, ist eine Hypothese …“
Ludwig Wittgenstein, Tractatus
Funktelegramm via Radio Austria N° 2155
Berlin, 5. Januar 1940
Zu Händen von
Frau Adele Gödel
Hegelgasse 5, Wien
Deutsche Pässe ausgestellt – amerikanische Visa auf dem Weg – bestätigt heute von Aydelotte – nimm ersten Zug nach Berlin – bindend – bring warme Kleidung – nur 1 Koffer – 8 – Kurt.
Berlin, den 15. Januar 1940
Meine Allerliebsten!
Am frühen Abend brechen wir nach Moskau auf. Von dort fahren wir mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Wladiwostok. Dort wollen wir uns nach Yokohama in Japan einschiffen und dort wiederum, wenn alles so läuft, wie vorgesehen, auf einem Dampfer nach San Francisco übersetzen.
Wie durch ein Wunder wurden uns letzte Woche die amerikanischen Einreisevisa ausgestellt, die Überfahrt auf einem Transatlantikschiff ist uns jedoch offiziell verboten. Mit unseren deutschen Reisepässen dürfen wir nur im Transit durch die Sowjetunion und Japan fahren. Es wäre auch zu riskant gewesen, den Atlantik zu überqueren. Die Gültigkeit unserer Papiere ist nur von kurzer Dauer, wir müssen schnellstens abreisen. Gestern mussten wir uns gegen so schreckliche Krankheiten wie Pest, Typhus und Pocken impfen lassen … Kurt bekam Zustände – er kann nicht einmal den Anblick einer Spritze ertragen!
Die Wohnung ist in Unordnung, ich hatte vor meiner Abreise keine Zeit mehr, alles zu putzen. Könnt Ihr dafür sorgen, dass diese verfluchten Mäuse nicht den Keller überfallen? Elisabeth kann dort wohnen, wie es ihr gefällt, bis wir zurückkommen. Wenn sie nicht einzieht, könnt Ihr dann die Fensterläden von Zeit zu Zeit aufmachen und lüften? Kurt verabscheut abgestandene Luft. Hat Liesl sich von ihrem schlimmen Husten erholt? Sie muss weiterhin Senfumschläge machen, auch wenn es brennt.
Meine liebste Mama, pass gut auf dich auf. Der Winter wird lang, aber ich komme mit den ersten Veilchen zurück! Dann lachen wir zusammen über dieses Abenteuer. Kurt schickt Euch die besten Grüße, ich umarme Euch.
Eure Adele
So eine Angst hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehabt. Ich krümmte mich vor Schmerzen, meine Gedärme waren zerfressen vor Angst. Ich musste meine Panik verbergen, damit Kurt die Nerven behielt. Dass er so eine Ruhe an den Tag legte, war kein gutes Zeichen. Wenige Tage vor unserer Abreise – in all der Unsicherheit, ob wir überhaupt Einreisevisa bekommen würden – hat er in Berlin einen Vortrag über die Kontinuumshypothese gehalten. Wie konnte er inmitten dieses Albtraums nur immer an seine Mathematik denken? Obwohl die Welt von Wien bis nach Berlin, von Wladiwostok bis nach Yokohama vergiftet war von Uniformen, behauptete er, ohne mit der Wimper zu zucken, dass dieser Krieg nicht lange dauern würde.
Zu viele Fragen nagten an mir. Warum hatten sie uns gehen lassen? Sicherlich war es ein Irrtum, und sie würden uns an der Grenze festnehmen. Wie sollten wir mit deutschen Pässen durch ein kommunistisches Land zum Pazifik gelangen? Wir mussten flüchten, solange uns der Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der Sowjetunion den Weg nach Osten noch offen hielt. Ich begriff nicht, wieso Stalin und Hitler diesen widernatürlichen Vertrag einfach so hatten unterzeichnen können – nach allem, was wir in Wien über diese roten Teufel gelesen und gehört hatten, vor denen man uns schützen musste! Wer würde Hitler daran hindern, den russischen Wachhund anzugreifen, sobald er mit Polen fertig wäre?
Ich flüchtete mich in organisatorische Aufgaben: Wie sollte ich einen einzigen Koffer packen? Wie sollte man mit so wenig ein neues Leben aufbauen?
Bigosovo, den 18. Januar 1940
Meine Allerliebsten!
Dieser Brief ist sicherlich der letzte, den Ihr für lange Zeit bekommen werdet. Wir sind nun kurz vor der russischen Grenze. Der Zug nach Moskau hat ein wenig Verspätung. Die Stadt wird überrannt von Auswanderern, vor allem Juden
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