Die Göttin der kleinen Siege
Gatte hielt sie zum Schweigen an. Er war ganz fahl vor Angst. Also sang ich ein Wiegenlied auf Deutsch. Ich erinnerte mich an das Lied, das mir meine Mutter immer gesungen hatte. Ganz spontan fielen mir die Melodie und der Text wieder ein, dabei hatte ich gedacht, ich hätte sie vergessen: Guten Abend, gut’ Nacht, mit Rosen bedacht, mit Näglein besteckt, schlupf unter die Deck’. Nun befahl Kurt mir, still zu sein. In diesem Zug war es genauso gefährlich, deutsch zu sein wie jüdisch. Ich trällerte weiter, keiner sagte mehr etwas.
Kurt beklagte sich nicht mehr. Er sah immerzu hinaus in die Landschaft, hin und wieder hob er den Arm aus seinem Sarkophag aus Wolle, um die Scheibe zu putzen. Aber es gab draußen nichts zu sehen, es war zu dunkel. Er betrachtete sein Spiegelbild, als könnte es ihm eine Antwort geben. Ich malte eine liegende Acht auf die beschlagene Scheibe. Er lächelte, dann wischte er sie ab. Um meine Verlegenheit zu kaschieren, malte ich für die Kleine eine russische Puppe ans Fenster, dann eine weitere Puppe in die Matroschka hinein und noch eine. Suzanna lachte. Ich hörte sie zum ersten Mal lachen.
Ich hatte Kurts Schweigen zu unrecht einer kühlen Eifersucht zugeschrieben, denn er mochte es nicht, wenn ich mich mit anderen befasste. Auch die Information, die sein ehemaliger Lehrer, der Physiker Hans Thirring ihm in Berlin zur Übermittlung an Albert Einstein anvertraut hatte, belastete ihn nicht: Nazideutschland wäre bald in der Lage, die Kernspaltung durchzuführen. Kurt glaubte das nicht wirklich, jedenfalls nicht, dass es so schnell ginge. Er wusste, dass er nur ein Bote unter anderen war, denn aus ganz Europa überquerten gleichlautende Nachrichten die Weltmeere und liefen in Princeton zusammen.
Während ich mich fragte, ob die Reise überhaupt einmal zu Ende wäre, dachte Kurt an die Unendlichkeit. Er befragte sein Spiegelbild in der Nacht, während gewisse andere, seine Kollegen, gegen die Zeit kämpften – nicht nur um diese verfluchte Bombe überhaupt zu haben, sondern um sie vor den anderen zu haben.
Yokohama, den 2. Februar 1940
Meine Allerliebsten!
In Yokohama empfinden wir nun große Erleichterung – endlich Luft! Wasser! Heizung! Um an Bord der Taft zu gehen, auf die wir gebucht waren, sind wir zu spät gekommen. Nun müssen wir über zwei Wochen warten, um uns auf einem anderen Dampfer einzuschiffen, der President Cleveland. Unter glücklicheren Umständen wäre ich fasziniert gewesen – Japan ist hinreißend. Ich war ja noch nie weiter als bis Aflenz gekommen! Dieses Land ist nicht so mittelalterlich, wie ich dachte, wir haben alle notwendigen Annehmlichkeiten. Das Treiben auf den Straßen steht in nichts hinter dem auf dem Wiener Ring zurück – funkelnde Autos, Fahrräder, wohin man nur blickt, Pferdekarren und Rikschas, das sind gewissermaßen Fahrradfiaker, gezogen von irgendwelchen armen Schluckern. Ich beobachte stundenlang die Passanten. Männer im schicken Überzieher und Arbeiter mit komischen Schuhen und noch seltsameren Kopfbedeckungen. Die Frauen tragen größtenteils traditionelle Kleidung. Ich werde versuchen, Euch eines dieser Wunder aus Seide mitzubringen. Ich muss jedoch sparsam sein, denn wir haben nur begrenzt Bargeld zur Verfügung. Kurt versucht seit Tagen vergeblich, eine Anweisung aus Princeton über den Foreign Exchange Service zu bekommen. Ich muss mich erneut mit Wäsche ausstatten. Wir sind nur mit wenig abgereist. Zu meinem großen Bedauern ist Importware viel zu teuer.
Die Asiaten sind nicht zitronengelb, wie ich dachte, sie sind sogar eher blass und haben lidlose Schlitzaugen. Die Arbeiter hingegen sind sehr braun, ihre Haut ist von der Sonne gegerbt. Gewisse Damen, man sagt, sie seien leichtlebig, spazieren mit weiß gepudertem Gesicht und schwarz gefärbten Zähnen umher. Ich würde gern mit ihnen sprechen, aber wir haben keine gemeinsame Sprache. Gestern habe ich versucht, zu zwei von diesen Geschöpfen zu sagen, dass sie prachtvolle Kimonos hätten – sie sind weggerannt und haben in ihre Ärmel gekichert.
Die Japaner sind höflich, aber sehr distanziert. Sie mögen Ausländer nicht besonders. Wir sind in einem komfortablen Hotel untergekommen, es gibt warmes Wasser in Hülle und Fülle. Ich steige nur aus meiner heißen Wanne, um im Viertel zu flanieren, entferne mich aber nie sehr weit vom Hotel. Überall sind Männer in Uniform. Sie geben einem zu verstehen, dass es den „Langnasen“, also den Leuten aus dem Westen,
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