Die Göttin der kleinen Siege
wie der Sohn der Adams. Aber zumindest würde Anna sie nicht vom Polizeirevier aus anrufen. Doch eigentlich war Leo der Sohn, den sie gern gehabt hätten. In Anna hatte man kleine Hoffnungen gesetzt, und sie hatte sie nicht enttäuscht. Sie hatte sich nicht einmal mit Faulheit rechtfertigen können, denn sie hatte fleißig gebüffelt und war begierig auf das dünne Lächeln gewesen, das jede Bestnote begleitet hatte, aber davon hatte sie nie genug bekommen. Es wäre schicker gewesen, die Wissenslücken eines Faulpelzes zu beklagen. Doch mit vierzehn sprach sie bereits mehrere Sprachen. Ihre Mutter hatte ihr zu dialektal gefärbtes Deutsch korrigiert, ihr Vater hatte ihr Französisch und ihr Italienisch gerade mal für ausreichend befunden, um im Restaurant eine Bestellung aufzugeben. Die Jugendliche hatte sich ihre Wut in kleinen schwarzen Notizbüchern vom Herzen geschrieben, die sauber nach Datum geordnet auf dem Regal in ihrem Zimmer gestanden waren; darin hatte sie ihr Umfeld schonungslos auseinandergenommen. Seit Rachel „aus Versehen“ in einem dieser Hefte gelesen hatte, hatte Anna sich angewöhnt, in der Gabelsberger zu schreiben, einer Kurzschrift, die ihre Großmutter ihr als ein Spiel beigebracht hatte. Ihre runde Handschrift war ihren Schulaufgaben vorbehalten geblieben. Bei der Aushändigung des Abschlusszeugnisses hatte ihr Vater auf die Uhr gesehen, ihre Mutter, mit einem aufreizenden Dekolleté, hatte Bestandsaufnahme des männlichen Inventars gemacht – unter all diesen zugeknöpften Jungen wäre zumindest einer, der sich für ihre Tochter interessieren könnte. Eine Heirat wäre vielleicht eine gute Lösung – es heißt ja, dass das Talent manchmal eine Generation überspringt.
Mit ihren Noten hätte Anna sich mit einer staatlichen Universität begnügen sollen, anstatt nach Princeton zu gehen. Die Roths hatten sich nicht damit aufgehalten, Stolz zu zeigen. Mit ein paar Telefonaten war dafür gesorgt worden, dass Anna auf ihre Alma Mater kam. Anna hatte versucht, für ein bisschen mehr Freiheit zu plädieren, aber es war ihr klargemacht worden, dass sich ihr eine solche Gelegenheit nicht zweimal bieten würde. Im dritten Studienjahr hatte Anna schließlich das seltene Juwel ergattert, William, ihren Literaturtutor. Im zweiten Trimester jenes Jahres waren sie den jeweiligen Eltern vorgestellt worden, im dritten waren sie verlobt gewesen. George schätzte den jungen Mann, der ihm ehrerbietig an den Lippen hing. Auch wenn die beiden eine begrenzte universitäre Zukunft hätten – englische Literatur des 19. Jahrhunderts! Wie konnte man heutzutage noch so wenig Ehrgeiz an den Tag legen? –, so waren sie doch kultiviert genug, die Familientradition zu achten. Will galt als zuverlässig, pünktlich und sehr familienverbunden. Äußerlich war er robust, sein Intellekt annehmbar. Für Anna hatte er im Gegensatz zu seinen Vorgängern den Vorteil, ein hingebungsvoller Liebhaber zu sein und eine große Bibliothek zu besitzen. Rachel hatte die Wahl ihrer Tochter nicht kommentiert. Sie war immer höflich zu Will gewesen, ohne je herzlich zu sein. Anna hätte erleichtert sein müssen, dass ihr Verlobter nicht dem Beuteschema ihrer Mutter entsprach und diese auf ihre üblichen Verführungsversuche verzichtete, doch Rachels Zurückhaltung war nur ein weiterer Beweis für ihr Desinteresse.
Erst nach Jahren hatte sie die simple Wahrheit akzeptieren können: Was sie bei Rachel als Enttäuschung interpretiert hatte, war Erleichterung gewesen, denn Anna wäre niemals eine Frau, nach der man sich umdrehte. Anders als ihre Mutter, deren uneingestandener Sieg darin bestanden hatte, ein stinknormales Mädchen in die Welt zu setzen. Ihr Vater hatte andere Doktoranden, die er antreiben konnte – mit der relativen Mittelmäßigkeit seiner Nachkommenschaft hatte er sich schon lange abgefunden.
„Du bist eine totale Langweilerin“, hatte Leo zu Anna gesagt, als sie sich geweigert hatte, die Erfahrung aus der Bibliothek zu wiederholen. Sie sah das unkompliziert: Sie verlangte schlicht und ergreifend mehr, als er ihr geben konnte. Diese mathematische Gleichung hätte er ohne Weiteres begreifen müssen.
Von einem Zusammentreffen mit Leo an Thanksgiving hatte sie also nichts zu erwarten außer einer leichten gegenseitigen Verlegenheit. Sie leerte das orangerote Plastikröhrchen in ihre hohle Hand. Sie würde heute Vormittag nicht zur Arbeit im Institut gehen, sie würde einen Besuch bei Frau Gödel vorschieben. Sie
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