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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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drängten sich an Deck. Einer schrie lachend: „Land in Sicht!“ Ein anderer hielt nach der Freiheitsstatue Ausschau. Kurt erklärte ihm geduldig, dass wir an der Westküste der USA ankämen. Von New York trennten uns noch dreitausend Meilen. Der Mann hörte gar nicht zu, er war glücklich. Und dann wurden wir ins Getümmel geschoben – Geschrei, die Gangways wurden ausgefahren, ungeduldige Gepäckträger. Wer Glück hatte, fiel in weit ausgebreitete Arme. Wir hatten uns ausgeschifft, ohne uns Illusionen zu machen, in der spärlichen Menschenmenge am Kai ein bekanntes Gesicht anzutreffen. Wir hielten uns aneinander fest.
    Aus Angst, sie könnten gestohlen werden, hatte ich die Visa, die Impfbücher und alle möglichen anderen Dokumente in meinem Hüfthalter versteckt. Seit Berlin hatte ich damit geschlafen! Trotzdem war ich am Einreiseschalter noch von einer letzten Angst besessen. Als der Beamte Kurt die Routinefrage stellte, ob er wegen seelischer Probleme in Behandlung gewesen sei, sah Kurt ihn mit festem Blick an und antwortete ganz ruhig: „Nein.“ Er konnte also doch lügen! Dann unterschrieben wir, dass wir die amerikanische Staatsbürgerschaft nicht beantragen wollten. Und da hat Kurt mich angelogen: Er hatte bereits entschieden, dass er nie wieder einen Fuß nach Europa setzen würde. Unter dieses Leben hatte er einen sauberen Schlussstrich gezogen – Ende der Show.
    So standen wir auf einmal ganz verstört in der Mission Street und trauten uns weder zu lächeln noch einander anzusehen, solche Angst hatten wir, in letzter Minute zurückgerufen zu werden. Und dann ging die Sonne über San Francisco auf. Mein Bauch entspannte sich wieder, plötzlich bekam ich unvorstellbaren Hunger. Wir stürzten ins erste Restaurant mit europäisch anmutender Speisekarte.

25.
    Gestern Abend hatte Elizabeth Glinka eine Nachricht im Institut hinterlassen: Adele war aus der Intensivstation entlassen worden. Ihr Arzt gab sich zuversichtlich. Der Zustand der alten Dame hatte sich nicht verschlechtert. Anna, die drei Tage lang in ihrer Wohnung umhergetigert war, war zur Seniorenresidenz gefahren, nachdem sie die sehr spezielle Aufgabe, die sie sich gestellt hatte, erledigt hatte.
    Sie klopfte an die offen stehende Tür. Aus einem Radio erklang leise Jazzmusik. Anna war erstaunt, als sie das übliche „Kommen Sie rein!“ hörte, gerufen mit munterer Stimme.
    „Sind Sie auch nicht zu müde, um mich zu empfangen, Adele?“
    „Ich bin unsterblich, meine Hübsche. Die Gödel ist wie Unkraut, das nicht vergeht. Ich bin in besserer Verfassung als Sie. Sie sind ja so blass.“
    Anna leugnete es nicht. Am Morgen im Bad hatte sie den Blick in den Spiegel vermieden.
    „Ein Schlückchen Whiskey? Das wird unsere Gedanken ordnen. Keine Sorge – ich begnüge mich mit meiner Infusion. Ich weiß ja nicht, was sie da reinkippen, aber ich kann das Zeug nur empfehlen. Nein? Wirklich nicht? Dann vielleicht ein Keks? Elizabeth hat mir Sachen dagelassen, mit denen ich ein ganzes Regiment füttern könnte.“
    Anna winkte ab. Sie hatte Hunger, aber keine Lust, etwas zu essen. Beide Empfindungen waren bei ihr seit Wochen nicht mehr verbunden.
    „Sie haben Elizabeth gefallen. Und sie ist eine der wenigen Personen, denen ich noch immer vertraue, obwohl sie zur Geschwätzigkeit neigt. Jetzt essen Sie doch ein Keks! Sonst verlieren Sie ja noch im Gehen Ihren Rock – auch wenn das kein großer Verlust wäre.“
    Die junge Frau nahm schließlich ein Stück Gebäck – viel zu süß.
    „Sie hatten Angst, ein leeres Bett vorzufinden und Ihre Arbeit nicht beenden zu können.“
    Anna zwang sich, den Bissen schnellstmöglich hinunterzuschlucken.
    „Sie wissen ganz genau, dass das nicht stimmt.“
    „Tut mir leid. Das ist eine Art Reflex bei mir. Mein Gott! Habe ich gesagt: ‚Tut mir leid‘? Sie sind ansteckend! Stellen Sie das Radio lauter, das ist Chet Baker. Ach, was hatte er für ein Engelsgesicht! Und was ist nun aus ihm geworden? Angeblich nimmt er Drogen.“
    „Heutzutage nimmt jeder Drogen.“
    „Lange vor dem Krieg hat man in Wien schon Opium geraucht und Kokain gezogen. Jede Generation meint, sie hätte das Feiern und die Ernüchterung erfunden! Verzweiflung kommt nie aus der Mode, genauso wenig wie die Nostalgie.“
    „Auch Nostalgie ist eine Droge.“
    „Papperlapapp! Schöne Erinnerungen sind der einzige Reichtum, der einem nicht gestohlen werden kann. Aber wie dem auch sei – außer meinem Radio durfte ich kaum etwas hierher

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