Die Göttin der kleinen Siege
fliehen in die Sowjetunion. Die Bahnsteige sind voller Koffer, voller weinender Kinder und terrorisierter Menschen. Es ist bereits sehr kalt – danke, Mama, dass Du mir Deinen Pelzmantel geschenkt hast, ich kann ihn gut gebrauchen! Ich habe den Aufenthalt hier genutzt und in letzter Minute ein paar Einkäufe getätigt. Alle hatten dieselbe Idee. In dieser Stadt gibt es nun keine einzige Decke und kein Paar Socken mehr. Ich musste mich zu astronomischen Preisen mit Wolle versorgen. Die kann ich auf der langen Reise dann verarbeiten.
Wir haben ungarische Auswanderer kennengelernt, die Familie Müller. Wie wir wollen auch die Müllers in die USA. Sie sind mit sehr wenig Gepäck unterwegs. An der Echtheit ihrer Papiere habe ich starke Zweifel. Der Vater ist Arzt, was Kurt sehr interessierte – bis er uns sein Fachgebiet vorstellte: Psychoanalyse. Wusstet Ihr, dass Doktor Freud letzten September in London gestorben ist? Dennoch haben Kurt und Müller gemeinsame Interessen entdeckt. Er kennt die Arbeiten meines Mannes. Ihre drei Kinder, zwei große Jungen und ein reizendes Mädelchen, veranstalten einen Heidenlärm. Kurt strengt das sehr an, aber ich hätschle mit Hingabe die kleine Suzanna, die hübsch ist wie ein Herzchen. Sie sieht aus wie Liesl als Kind! Die Kinder sind goldblond wie ihre Mutter, das ist in ihrem Fall von Vorteil – sie ziehen weniger Aufmerksamkeit auf sich. Kurt hat den letzten Apotheker ausgeplündert, der noch Lagerbestände hatte. Mit dem, was er in der Tasche hat, kann er den ganzen Zug versorgen! Das Essen ist einigermaßen akzeptabel.
Kurt lässt Euch grüßen. Ich umarme Euch tausendmal. Ich vermisse Euch.
Eure Adele
Den Augenblick überstehen und dann den nächsten. Keine Panik. Ich musste in mir diese andere Seite finden, die allmächtige, und das kleine ängstliche Mädchen wegsperren, wohl wissend, dass dieses Kind eines Tages so laut schreien würde, dass ich ihm wieder die Tür öffnen müsste und es dann untröstlich wäre.
Ich war ganz allein auf mich gestellt in einem fremden Land, mit einem Mann, der sich um gar nichts kümmerte. Mir blieb nichts anderes übrig, als meine Flügel auszustrecken und schneller zu fliegen als dieser harsche Wind, schneller als die Angst.
Inmitten dieser verzweifelten Menschen half ich, gab Ratschläge. Ich beschimpfte das Zugpersonal, wenn es sein musste oder wenn mir danach war. Ich tat so, als wüsste ich nicht, was wir waren: eine gejagte Beute. Die widerliche Bestie, die uns verfolgte, war nicht die, die auch die Müllers hetzte – das Monster meiner Albträume trug keine SS-Uniform, es verkroch sich in Kurts Seele, wartete seine Stunde ab und labte sich an dem Futter aus Todesangst, das ich ihm auf dieser Reise ins Ungewisse vorsetzte. Ich nahm mich wieder zusammen und befahl meinem Bauch, sich ruhig zu verhalten. Ich schrieb unsinnige Briefe voller Lügen. Ich bestach den Schaffner, damit er einen trinkbaren Tee für mich auftrieb. Ich tat Übermenschliches, um zusätzliche Decken zu bekommen. Ich strickte stundenlang, damit meine Hände nicht zitterten.
Moskau, den 20. Januar 1940
Meine Allerliebsten!
Wir haben ein paar Stunden Aufenthalt in Moskau. Es ist bitterkalt. Ich kann den Bahnhof nicht verlassen, um neuen Proviant zu besorgen. Ein paar Schwarzhändler verkaufen auf den Bahnsteigen Waren, die sie mit Gold aufwiegen! Vor allen Dingen schlechten Wodka. Ich vertraue diesen Brief einem russischen Musiker an – er kennt den Nachtfalter ! Ich hoffe, er ist ehrlich und versäuft das Geld nicht, das ich ihm fürs Frankieren gegeben habe. Trotz der Unbequemlichkeit der Reise herrscht ausgelassene Stimmung. Die Leute machen viel Musik, um sich zu beschäftigen. In einigen Abteilen geht es wahrlich zu wie in einer Spelunke. Kurt geht es gut, er arbeitet ein wenig, wenn der Lärm und der Rauch ihn nicht zu sehr stören.
Ich denke so oft an Euch, dass ich Euch sehen kann, hier auf dem Bahnsteig. Bald werden wir auf einem anderen Bahnsteig wieder alle vereint sein.
Mit all meiner Liebe,
Eure Adele
Als ich diese Zeilen schrieb, glaubte ich schon selbst nicht mehr daran. Ich beugte mich zu Kurt hinüber und fragte ihn: „Willst Du auch ein Wort hinzufügen?“ Er lehnte ab. „Mach dir um sie nicht so viele Sorgen.“ Er sorgte sich nicht einmal um seine eigene Familie. Was es zum Abendessen geben würde, beschäftigte ihn mehr.
Ich verließ das Abteil, um draußen zu rauchen. Von den türkischen Zigaretten wurde mir
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