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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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inkorrekt ist.“
    „Abzählbare Unendlichkeit – ist das nicht vermessen?“
    „Ständig Witze zu machen, während ich versuche, dir ein kompliziertes Thema zu erklären, das ist vermessen, Adele!“
    Reuevoll schlug ich die Hand aufs Herz.
    „Wenn du mir von Anfang an aufmerksam gefolgt bist, verstehst du nun, dass die Menge der Teilmengen dieser Kardinalität ℕ 0 , man nennt sie Aleph-Eins ℕ 1 , wiederum größer ist als ℕ 0 . Du kannst mehr unterschiedliche Häufchen bilden, als du Kiesel hast. Nach Georg Cantor kann sich diese Menge der Teilmengen in eine bijektive Funktion mit der Menge ℝ der reellen Zahlen setzen lassen. Ihre jeweiligen Elemente können sich sozusagen paaren wie Tänzer im Ballsaal. Nun bin ich aber mit meinen Metaphern am Ende.“
    Der Sand in der kleinen Bucht wurde von weiteren okkulten Zeichen durchzogen. Ich sah mich um – ein misstrauischer Spaziergänger hätte uns für Spione halten können!
    „Zusammengefasst kann man sagen, Adele, dass es keine Zwischenunendlichkeiten zwischen der unendlichen Menge der natürlichen ganzen Zahlen und der unendlichen Menge der reellen Zahlen gibt … geben könnte … Wenn es eine Grenze gibt, dann zwischen ℕ und ℝ : das kleinste Häufchen Steine und das Häufchen mit allen Steinen, das aber nicht durch Kiesel dargestellt werden kann, denn diese Menge ist nicht abzählbar. Vergessen wir die Zwischenmengen ℤ und ℚ , denn ihre Unendlichkeit ist dieselbe wie die von ℕ , wie ich dir erklärt habe. Nun kämen wir also mit einem einzigen Sprung zum Abzählbaren, zur diskreten, steten Funktion. Das nennt man Kontinuumshypothese.“
    „Eine Hypothese? Hat dein Cantor sie denn nicht bewiesen?“
    „Bislang hat das Problem noch niemand definitiv gelöst. Diese Hypothese ist das erste Problem auf der Liste des deutschen Mathematikers David Hilbert, mit deren Lösung er die Mathematik als formales, widerspruchsfreies System konsolidieren wollte.“
    „Dieses berühmte Programm, von dem du den zweiten Punkt mit deinem Unvollständigkeitssatz gelöst hast? Warum hast du, der du so ordentlich bist, denn nicht mit dem ersten angefangen?“
    Dieser Cantor war völlig verrückt, wie ich später herausfand. Auch er hatte sein Leben lang immer wieder unter Depressionen gelitten. Warum hatte Kurt diesen unergründlichen Weg gewählt?
    „Cantors Arbeit basierte auf einem strittigen Axiom, dem ‚Auswahlaxiom‘.“
    „Du hast mir einmal gesagt, dass ein Axiom eine unverrückbare Wahrheit ist.“
    Er hob eine Augenbraue.
    „Dein Gedächtnis erstaunt mich, Adele. Ja, einerseits hast du recht, aber das Auswahlaxiom ist eine Wahrheit innerhalb eines sehr speziellen mathematischen Instrumentariums. Ich habe jetzt nicht mehr die Kraft, es dir in allen Einzelheiten darzulegen. Du musst nur wissen, dass der Umgang mit bestimmten Axiomen in der Mathematik zu unlösbaren logischen Paradoxien führt und somit zum Zweifel an ihrer Akzeptanz.“
    „Und du magst keine Paradoxien.“
    „Ich versuche, die Entscheidbarkeit, die Unabhängigkeit der Kontinuumshypothese zu begründen. Ich möchte also mit unstrittigen Axiomen beweisen, ob sie wahr ist oder falsch.“
    „Du hast es doch selbst bewiesen: Alle mathematischen Wahrheiten sind nicht beweisbar!“
    „Das ist eine inkorrekte Formulierung meines Theorems. Aber das ist nicht das Problem. Wenn diese Axiome ‚falsch‘ sind, müssen wir andere Beweissätze, die darauf aufbauen, für ungültig erklären.“
    „Und ist das denn so schlimm, mein lieber Herr Doktor Gödel?“
    „Man kann auf einem schlechten Fundament keine Kathedrale errichten. ‚Wir müssen wissen und wir werden wissen‘, wie Hilbert gesagt hat.“
    Ich wühlte im Sand, unter meinen Fingernägeln blieben Sandkörner hängen. Ich würde mit einer Musterprobe der Unendlichkeit ins Hotel zurückkommen.
    „Diese Kontinuumshypothese ist Blabla für mich! Könntest du sie nicht mit einem einfachen Bild erklären, damit ich sie verstehe?“
    „Wenn sich die Welt durch Bilder erklären würde, bräuchten wir keine Mathematik.“
    „Und auch keine Mathematiker, mein armer Liebling!“
    „Das wird nie passieren.“
    „Wie würdest du es einem Kind erklären?“
    Die eigentliche Frage war: Wie würdest du es unserem Kind erklären? Hätte Kurt die Geduld, einer einfältigeren, einer ungenaueren Kopie seiner selbst sein Universum zu erläutern? Wäre er bereit, all das neu zu formulieren, was er seit langer Zeit nicht mehr in Worte fasste,

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