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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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ein Zeichen von Gesundheit sehen. In ihrem bunten Schal, dem geblümten Nachthemd und mit ihrem durchdringenden Blick sah Adele aus wie eine wilde Zigeunerin. Wo war denn ihr Turban abgeblieben? Jemand hatte ihn in die Reinigung gegeben, es sei denn, Adele hatte beschlossen, ihn in eine Schublade zu stecken.
    Anna musste ihre Tasche abstellen und sich setzen, ihre Beine zitterten. Ihre Sorge um Adele Gödel hatte sie erschöpft. Sie erinnerte sich nicht mehr an die Fahrt nach Pine Run .
    „Sie haben ja schlimme Augenringe, meine Kleine. Es bekommt Ihnen nicht, sich ständig hier in diesem Sterbehaus aufzuhalten. Ich finde, Sie werden immer dünner. Ich rufe die Schwester, sie soll Ihren Blutdruck messen.“
    Anna stand zu schnell auf, ihr wurde schwindlig. Ein schwarzes Tuch legte sich über ihre Augen. Von ferne hörte sie eine Stimme und dann, dann hörte sie gar nichts mehr.
    „Das hat uns gerade noch gefehlt!“
     
    Anna erwachte in Adele Gödels Bett – die Beine hochgelegt, eine kalte Kompresse auf der Stirn. Sie roch den Duft von Adeles Lavendelwasser. Die alte Dame, eingehüllt in ihren ewigen verblichenen Morgenmantel, saß neben ihr. Sie tätschelte der jungen Frau die Hand. „Sie sind ja völlig benebelt, was?“ Anna versuchte, sich aufzurichten, Adele hielt sie streng im Bett fest. Gladys, in Begleitung einer ganzen Schar Achtzigjähriger, steckte ihre Nase zur Tür herein. Adele drehte ihr drohend den Kopf zu.
    „Lungert nicht da draußen rum! Sie braucht Ruhe. Raus hier!“
    Betreten zogen sie ab, ihre Geschenke, bestehend aus den verschiedensten Süßigkeiten, ließen sie jedoch da. Adele stopfte ein Keks in Annas Mund.
    „Sie müssen sich zwingen, von Zeit zu Zeit richtig zu essen. Nicht diesen Mist aus dem Automaten! Wenn ich noch zu Hause wohnen würde, würde ich Ihnen ein Schnitzel braten.“
    Anna verspürte Brechreiz, aber sie kaute gehorsam.
    „Sie sind die Attraktion des Tages – zusammen mit der Wahl dieses alternden Schönlings. Das wird sie mindestens zwei Wochen lang beschäftigen.“
    „Dann sind Sie gar keine Republikanerin?“
    „Ich glaube lieber an Menschen, weniger an Ideologien. Reagan flößt mir kein Vertrauen ein. Er hat zu viele Zähne. Zu viel Haar.“
    Anna konnte nur mit Mühe schlucken. Adele reichte ihr ein Glas Wasser.
    „Sie werden uns doch jetzt nicht in eine Depression verfallen, meine Hübsche!“
    „Carter hatte noch mehr Zähne. Das ist kein gutes Kriterium.“
    „Mein liebes Kind, auf einem Gebiet kann ich die Menschen einschätzen, und das sind eben ihre Seelenzustände. Also hören Sie auf, zu simulieren! Haben Sie deswegen so großes Interesse an der persönlichen Geschichte meines Mannes? Sie können ohne Scham mit mir darüber reden. Sie liegen ja schon.“
    „Haben Sie ein Diplom?“
    „Ich habe an der Quelle gelernt. Wiener Spezialität.“
    „Es ist kompliziert.“
    „Ich weiß. Ich kenne das in- und auswendig. Dennoch gibt es in allen Sprachen schöne Wörter dafür: mélancolie auf Französisch, saudade auf Portugiesisch, spleen , blues auf Englisch – die Internationale der Schwermut.“
    Mit einem zitternden Finger betatschte die alte Dame die zurückgelassenen Naschereien. Anna musste ihren Würgereiz hinunterschlucken.
    „Ich jage dieses böse Biest schon mein ganzes Leben lang. Es verschwindet nie für lange Zeit. Für Kurt war dieser Stress ein Antrieb. Der Kampf war ungleich und vergebens, aber ich habe gekämpft. Heutzutage gibt es die Chemie. Da ist niemand, der nicht irgendwelche Pillen nimmt, sei es wegen des Herzens oder wegen der Leber. Warum denn nicht auch wegen der Seele? Essen Sie noch ein Keks. Sie werden doch jetzt nicht heulen! Ich kann Tränen bei anderen nicht sehen.“
    Anna biss in ein Keks und versuchte, den vergilbten Nagel zu übersehen, der an den Süßigkeiten kratzte.
    „Auch ich selbst bin von Melancholie nicht verschont geblieben.“
    „Ich dachte, Sie wären ein Fels, Adele.“
    „Mich selbst nicht gehen zu lassen war gar nicht so schwer. Aber mich nicht von Kurts Schwermut anstecken zu lassen, das war ein ständiger Krieg. Wenn ich morgens aufstand, wusste ich manchmal nicht, wie ich den Tag überstehen sollte oder auch nur die nächste Stunde. Doch dann – ein Lächeln auf seinem Gesicht, ein Sonnenstrahl auf dem Tischtuch, ein Anlass, ein neues Kleid zu tragen, und ich war wieder Teil der Welt. Jede Minute des Leides wurde von einer Hoffnung auf Freude weggewischt. Wie ein Kreuzstich mit dem

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