Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
Vom Netzwerk:
weil es für ihn selbstverständlich war?
    „An diesem Strand könnte der Sand eine abzählbare unendliche Menge darstellen, Adele. Du könntest nacheinander jedes Körnchen zählen. Sieh dir jetzt die Wellen an. Wo beginnt der Sand, wo endet das Meer? Wenn du ganz genau hinsiehst, kannst du eine kleinere, dann eine noch kleinere und eine immer noch kleinere Welle wahrnehmen. Zwischen Sand und Gischt gibt es keine klar definierbare Grenze. Vielleicht finden wir eines Tages einen ähnlichen Saum zwischen der Kardinalität von N und der von R, zwischen der Unendlichkeit der natürlichen ganzen Zahlen und der Unendlichkeit der reellen Zahlen.“
    „Warum schlägst du dir deswegen die Nächte um die Ohren? Warum vergisst du darüber zu essen?“
    „Das habe ich dir doch schon erklärt. Es ist eine ganz grundlegende Frage, sie ist fast metaphysisch. Hilbert hat sie ganz oben auf seine Liste gesetzt.“
    „Dass Herr Hilbert sie wichtig findet, sagt mir jedoch nicht, warum sie wichtig ist.“
    „Adele, ich habe so ein Gefühl, dass Cantors Kontinuumshypothese falsch ist. Uns fehlen Axiome, um eine korrekte Definition des Unendlichen zu erstellen.“
    „Was bringt es, das Meer mit einem Teelöffel leerzuschöpfen?“
    „Ich muss den Beweis für ein kohärentes, widerspruchsfreies System finden. Ich muss wissen, ob das Unendliche, über das ich forsche, eine objektive Realität oder eine Entscheidung ist. Ich möchte unsere Fortschritte in einem Universum dokumentieren, das mehr und mehr lesbar wird. Ich muss wissen, ob Gott die ganzen Zahlen geschaffen hat und der Mensch den Rest.“ 8
    Mit ungehaltenen Bewegungen warf er wie ein kleiner Junge die Steinchen seiner Beweisführung ins Wasser.
    „Dieser Beweis wird mir offenbaren, ob es eine göttliche Ordnung, ein Modell gibt. Wenn ich mein Leben darauf verwende, ihre Sprache zu verstehen und nicht allein in der Wüste mit Zahlen zu jonglieren, wird dieser Beweis mir sagen, ob all das einen Sinn hat.“
    Mit seinem Schreien verjagte er einen Schwarm Möwen. Ich legte ihm die Hände auf die Schultern, um ihn zu beruhigen. Er stieß mich weg.
    Ich nahm die Decke, faltete sie zu einem Viereck und wartete, bis es auch ihm beliebte, aufzubrechen.
    „Gehen wir wieder ins Hotel, mir ist kalt.“
    Wir gingen schweigend zurück. Ein paar Meter vor der Tür versuchte ich, das peinliche Schweigen zu brechen.
    „Ist es wegen der Einsamkeit? Wenn wir in Wien wären …“
    „Adele! Alles, was ich brauche, ist Princeton.“
    „Werden wir eines Tages zurückkehren?“
    „Ich sehe nicht, wozu.“
     
    Ich hatte die Frage gestellt, deren Antwort ich so gefürchtet hatte. Dennoch bin ich bis heute überzeugt, dass Kurt einen Teil seiner selbst in Wien zurückgelassen hatte. Er hatte dort fruchtbare Erde, diese gewisse Atmosphäre mit all seinen Kontakten aufgegeben – die Kaffeehäuser, wo sich Musiker, Philosophen und Schriftsteller trafen. In Princeton verkehrte er mit den größten Mathematikern seiner Zeit, aber er sonderte sich ab. In seinem abgeschlossenen System drehte er sich im Kreis. Angezogen von seiner Schwerkraft, suchte auch ich einen Sinn in diesem endlosen Tanz. Frustriert kehrten wir nach Princeton zurück – ich wegen dieses ungefestigten Halb-Lebens, er wegen seines Teilbeweises, der nach seinen Ansprüchen nicht elegant genug war, um veröffentlicht zu werden. Im Blue Hill House hatte er gesagt: „Ich habe Probleme.“ Er begann, eine ganz neue Liste zu erstellen: die seiner Niederlagen. Er wollte sich vor den anderen schützen, aber er wusste nicht, wie er sich immun machen konnte gegen die Enttäuschung, sich an seine eigenen Grenzen stoßen zu sehen. Im Sommer 1942 hat er sich selbst enttäuscht, ich wurde enttäuscht, wir haben uns gegenseitig enttäuscht. Zwei Menschen, drei Möglichkeiten: Im Zusammenleben lernt man, die Frustrationen abzuzählen.

27.
    Anna wartete im Flur, während die Krankenschwester Adele versorgte. Um der Langeweile zu entfliehen, schloss sie die Augen und versuchte zu erraten, was sich hinter jedem Schritt verbarg, der zu hören war: das Stakkato der Verwaltungs-Pumps, die Klage der Gummigaloschen, das Getuschel der Pantoffeln.
    Bevor sie ins Zimmer ging, stopfte sie die herausgerutschte Bluse in den Tweedrock, der ihr weit an den Hüften hing wie fast alle ihre Kleider. Adele Gödel lag zugedeckt im Bett und wirkte bedrückt. Der Unterschied zu ihrer Überschwänglichkeit in der Woche zuvor war auffällig. Anna wollte darin gern

Weitere Kostenlose Bücher