Die Göttin der kleinen Siege
ab: eins, zwei, drei Kieselsteine. Mit den Ordinalzahlen ordnest du die Elemente: erster, zweiter, dritter Kiesel. Die Kardinalität oder Mächtigkeit einer unendlichen Menge ‚zählt‘ deren Elemente bis zum Unendlichen, ohne ihnen eine Wertigkeit zu verleihen. Diese ‚Kardinalität der unendlichen Mengen‘ wird durch den ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets symbolisiert, das Aleph.“
Er zog ein rätselhaftes Zeichen in den Sand – א –, dann wischte er sich mit dem Taschentuch die Finger ab. Ich reichte ihm ein Stöckchen, das er als Zeichen des Dankes mit dem Anflug eines Lächelns entgegennahm.
„Die drei Kieselsteine stehen für natürliche, abzählbare Mengen. Sie werden wie alle normalen Dinge mit Zahlen abgezählt, die wir alle kennen: 1, 2, 3 und so weiter. Die unendliche Menge der natürlichen Zahlen nennt man ℕ .“
Er zeichnete ℕ ein und zog einen großen Kreis darum, in den er die drei Steine legte.
„Wieso? Gibt es auch andere Mengen?“
Ich fand es schön, dass er lachte; es war so selten.
„Unter anderem gibt es auch relative Mengen: ℤ , die Menge der ganzen Zahlen. Relative Zahlen definieren sich über den Wert Null. Man fügt einer ganzen Zahl das Minuszeichen ‚–‘ hinzu, um anzuzeigen, dass sie kleiner ist als null. –1 ist kleiner als 0, 1 größer als 0. Erinnerst du dich daran, dass die Leute im Zug von einer Temperatur von –50°C gesprochen haben? Um genau zu sein, hätten sie sagen müssen: –50° unter dem Wert, der auf der Celsiusskala den Null-Grad der Temperatur festlegt.“
Er zeichnete um den ersten Kreis einen größeren, dann einen dritten Kreis um beide. In den zweiten schrieb er den eleganten Großbuchstaben ℤ , in den dritten ein ℚ .
„ ℚ ist die Menge der rationalen Zahlen, die Menge der Brüche wie 1 / 3 oder 4 / 5 .“
„ ℕ , ℤ , ℚ … Mein armer Kopf!“
„Allein mit dem Menschenverstand kannst du begreifen, dass die Menge der natürlichen Zahlen ℕ kleiner ist als die der ganzen Zahlen ℤ . Die Menge ‚1, 2, 3‘ ist kleiner als die Menge ‚1, 2, 3, –1, –2, –3‘. ℤ wiederum ist kleiner als die Menge der rationalen Zahlen ℚ : Die Menge ‚1, 2, 3, –1, –2, –3‘ ist kleiner als die Menge ‚1, 2, 3, –1, –2, –3, 1 / 2 , 1 / 3 , 2 / 3 , – 1 / 2 , – 1 / 3 , – 2 / 3 ‘. Jede dieser Mengen ist Teilmenge einer anderen. Die Menge der natürlichen Zahlen ist also der kleinste Haufen, wenn du so willst, und die Menge der rationalen Zahlen der größte.“
„Das ist ja wie bei Töpfen, die man ineinanderstellen kann! Dann gibt es dort also auch verschiedene Unendlichkeiten?“
„Nein, sie haben dieselbe Kardinalität, dieselbe Mächtigkeit! Ich erspare dir den Beweis. Der deutsche Mathematiker Georg Cantor, 7 der im ausgehenden 19. Jahrhundert die Mengenlehre begründete, hat die Gleichmächtigkeit im Fall von Mengen mit endlich vielen Elementen mithilfe der Bijektion bewiesen. Das heißt, jedem Element der einen Menge, einer Definitionsmenge, kann exakt und symmetrisch ein Element der anderen Menge, der Zielebene, zugeordnet werden. Die Mengen sind also äquivalent. Bei unendlichen Mengen hat er das sogenannte Diagonalargument angewandt …“
„Deine Kardinalität ist für mich ein böhmisches Dorf!“
Eine neugierige Möwe hockte sich auf einen Felsen unweit von uns, sie sah mich mit dem scharfen Blick eines Vogels an, dem man sich nähert.
„Du hörst mir nicht zu, Adele!“
„Aber sicher höre ich zu! Also sind alle Mengen gleichmächtig. Man kommt immer auf eine einzige zurück.“
„Nein, denn es gibt noch andere Mengen. Zum Beispiel ℝ , die Menge der reellen Zahlen – das sind alle Punkte auf der Zahlengeraden. Zu den reellen Zahlen gehören die rationalen Zahlen, also die Brüche, und die irrationalen Zahlen wie die Kreiszahl π . Sie werden ‚irrational‘ genannt, weil man sie nicht exakt als Bruch, als Verhältnis zweier ganzer Zahlen darstellen kann. Die Kardinalität von ℝ , also der unendlichen Menge der rationalen Zahlen plus der unendlichen Menge der irrationalen Zahlen, ist wiederum größer. Auch das hat Cantor bewiesen.“
Kurt zog einen riesigen punktierten Kreis um die vorigen Kreise. Die Möwe war wohl einverstanden, dann flog sie wieder weg.
„Die Unendlichkeit der natürlichen Zahlen, angefangen bei der kleinsten Kardinalität Aleph-Null ℕ 0 – also unsere Menge ‚1, 2, 3‘ –, nennt man ‚abzählbare Unendlichkeit‘, auch wenn dieser Begriff
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