Die Göttin der kleinen Siege
Nichts. Hoppla! Jetzt sticke ich ja Poesie! Ihre Anwesenheit macht mich weich.“
„Sind Mathematiker sensibler als wir?“
Adele pickte einen Krümel auf, dann schob sie den Teller mit den Keksen außer Reichweite ihrer Gier.
„Der Fall aus ihrer Höhe kommt den Einfältigen brutaler vor. Die Leute hören gern Geschichten über verrückte Wissenschaftler. Es beruhigt sie, sich vorzustellen, dass so viel Intelligenz ihren Preis hat. Es ist ein Geben und Nehmen. Wenn du dich in die Höhe schwingst, musst du fallen.“
„Das Leben ist eine Gleichung. Was man auf der einen Seite gewinnt, wird auf der anderen wieder gestrichen.“
„Das sind nur Schuldgefühle, meine Schöne. Ich glaube nicht an ein kosmisches Gleichgewicht oder an das Karma. Nichts steht geschrieben, man muss sich alles erarbeiten.“
„Ich bin nicht so optimistisch wie Sie.“
„In Princeton gab es diesen Burschen, John Nash. 9 Auch er war ein Mathe-Genie. Er lehrte nicht mehr, hatte aber noch immer Zugang zu den Gebäuden. Man nannte ihn das ‚Phantom der Bibliothek‘. Hin und wieder habe ich ihn in seinen zerknitterten Kleidern umherirren sehen. In den Fünfzigerjahren hatte er eine steile Karriere angetreten, doch eines Tages war er innerlich zusammengebrochen. Er hat einen Großteil seines Lebens in Kliniken und mit Elektroschocks vergeudet. Nach dem, was ich zuletzt gehört habe, arbeitet er wieder. Er hat es geschafft, seine Dämonen zu besiegen.“
„Hatten Sie auch für Ihren Mann diese Hoffnung auf Erlösung?“
Adele dachte kurz nach, Anna bereute es, nachgefragt zu haben.
„Im Unterschied zu Nash war Kurt nicht schizophren. Die Ärzte haben bei ihm eine paranoide Psychose diagnostiziert. Die Mathematik hat ihn getötet und zugleich aus seiner Melancholie gerettet. Die geistige Arbeit hielt ihn zusammen. Indem er immer nur nachdachte, vergaß er seinen Körper. Wie Treibstoff und Gift zusammen – mit all dem konnte er nicht leben, ohne auch nicht. Hätte er mit seinen Forschungen aufgehört, wäre sein Ende beschleunigt worden.“
Anna hob ihre steifen Arme, um sich am Kopf zu kratzen. Sie spürte, wie zerzaust ihre offenen Haare waren. Adele kramte im Nachtkästchen und förderte eine Haarbürste zutage.
„Keine Sorge wegen der Hygiene, ich benutze sie nie.“
Die kräftigen Bürstenstriche taten wohl, Anna begann, sich zu entspannen. Sie konnte sich nicht entsinnen, dass ihre Mutter ihr das Haar gebürstet hätte, aber bei der Erinnerung an Ernestines geduldiges Zöpfeflechten überkamen sie wieder Schuldgefühle. Sie hatte schon so lange nichts mehr von Ernestine gehört, dabei wohnte sie ganz in Annas Nähe.
„Sie haben sehr schönes Haar. Schade, dass Sie es immer wie eine alte Jungfer zu einem Dutt knoten! Sie sind doch hübsch, aber Sie machen nichts aus sich!“
Anna verkrampfte sich.
„Es ist mir egal, ob ich hübsch bin. Ich hatte noch nie Probleme, jemanden zu verführen. Sorge macht mir hingegen, dass ich nichts anderes aus meinem Leben mache.“
„Wollen Sie auf Attraktivität verzichten? Aber, meine Güte, wieso denn?“
„Und worauf haben Sie verzichtet?“
Bei einem groben Strich mit der Bürste verzog Anna das Gesicht.
„Mein Gott! Ihnen muss man ja mit der Geburtszange auf die Sprünge helfen! Ich spüre, dass Ihr Gehirn auf der Suche nach einem Notausgang umherschwirrt!“
Adele machte sich über einen widerspenstigen Knoten her. Anna fand sich mit dem Schmerz ab. Adele konnte sie nicht verstehen, sie gehörte einer anderen Generation an, und Anna weigerte sich, sich diesem archaischen Zwang zur Koketterie zu unterwerfen. Das Interesse ihrer wenigen Freundinnen am Schaufensterbummel oder die Hysterie vor einer Party hatte sie nie geteilt. Für sie war das ein Rückfall in die steinzeitliche Arbeitsteilung: Die Jäger-Jungen liefen Bällen hinterher, während die Sammlerinnen-Mädchen Kleiderbügel häuteten. Ihre Theorie hatte Leo zum Lachen gebracht. Seiner Ansicht nach verachtete Anna amouröse Eskapaden, weil sie nicht den Mumm hatte, ihre winzige Brust zu akzeptieren. Dass sie sich in Kutten versteckte, zeigte eine typische Angst vor dem Phallus und ein übersteigertes Ego. Er gratulierte ihr zu diesen wenigen Bemühungen, denn nackt war sie ihm auf jeden Fall lieber. Anna hatte sich bei diesem Feld-, Wald- und Wiesenpsychologen bedankt, indem sie ihm ein Wörterbuch an den Kopf geworfen hatte – ein Beweis, dass ihr Stammhirn noch immer auf primitivster Ebene
Weitere Kostenlose Bücher