Die Göttin der kleinen Siege
Wellen. Dicht über der Gischt jagten die Möwen einander. In der Ferne sah ich ein plumpes Tier, das sich auf eine Klippe im Meer hievte. Die Sonne wärmte mir den Rücken. Hingerissen von dieser herrlichen Ruhe, sog ich die Luft tief in meine Lungen ein. Wie fern der Krieg war!
„Ich könnte ewig aufs Meer blicken.“
„Du kannst nicht schwimmen, Adele. Du solltest es lernen.“
Trotz der milden Luft hatte Kurt sich in seinen Mantel gehüllt.
„Siehst du dieses unglaubliche Blau am Horizont zwischen Himmel und Meer?“
Seine Hutkrempe hob sich kaum.
„Du schaust ja nicht mal hin! Woran denkst du angesichts des Ozeans?“
„Ich denke an ein Feld interferierender Wellen, dessen Komplexität mich fasziniert.“
„Wie trübsinnig! Du solltest deinen Kopf freibekommen mithilfe dieser Schönheit!“
„Mathematik ist die wahre Schönheit. Sie ist uns als Ganzes gegeben und verändert sich im Gegensatz zur Milchstraße nicht. Der Teil von ihr, in den wir einen vollständigen Einblick haben, scheint wunderschön zu sein und Harmonie zu vermitteln.“
Sein spröder Tonfall vergiftete den Augenblick.
„Was beschäftigt dich denn so sehr? Du erzählst mir nichts mehr von deiner Arbeit.“
Wäre Sarkasmus nicht an ihm abgeprallt, hätte ich hinzufügen können: Du redest schon lange über gar nichts mehr mit mir.
Ich nahm seine Hand, sie war kalt und verkrampft.
„Ich denke über die Existenz des Unendlichen nach.“
Er zog seine Hand weg und stellte sich an den Wassersaum. Eine kleine Welle lief über seine Schuhspitzen. Er verzog das Gesicht und wich zurück.
„Wenn du aufs Meer blickst, kannst du ein Gefühl für die Unendlichkeit bekommen, dieses Unendliche aber messen oder gar verstehen kann man nicht.“
„Das wäre, wie wenn man das Meer mit einem Teelöffel leeren wollte!“
„Wir haben, wie du sagst, Teelöffel geschaffen, um das Unendliche zu definieren, aber wie soll man es verifizieren, wenn unsere mathematischen Instrumente lediglich ein intellektuelles Gerüst sind?“
„Die Unendlichkeit hat doch schon existiert, bevor der Mensch die Mathematik erfunden hat!“
„Erfinden wir die Mathematik oder entdecken wir sie?“
„Gibt es etwas nur dann, wenn man Worte hat, um darüber zu reden?“
„Das ist ja mal eine komplexe Frage für dein kleines Gehirn!“
Ich zeichnete eine liegende Acht auf mein Herz.
„Die Unendlichkeit, die mich momentan beschäftigt, betrifft die Mengenlehre. Das ist etwas ganz anderes.“
„Was für ein alberner Gedanke! Das Unendliche ist das Unendliche – da gibt es kein größer oder kleiner.“
„Bestimmte Unendlichkeiten sind anderen überlegen.“
Er ordnete sorgsam drei Kieselsteine an, die er am Strand aufgehoben hatte.
„Das ist eine Menge. Ein Haufen, wenn du so willst. Aber egal, Kiesel oder Bonbons – betrachte sie als Elemente.“
Ich stand auf, um gelehrige Aufmerksamkeit zu zeigen. Er unternahm sonst ja nur wenige Anstrengungen, um mir etwas beizubringen.
„Ich kann sie zählen, kann sie abzählen. Eins, zwei, drei. Ich habe hier also eine Menge aus drei Elementen. Nun kann ich aus den Bestandteilen Teilmengen bilden. Der weiße Stein zusammen mit dem grauen, der weiße mit dem schwarzen, der schwarze mit dem grauen. Oder den weißen allein, den grauen allein, den schwarzen allein. Ich kann alle drei vereinen oder gar keinen. Ich habe acht Möglichkeiten, acht Teilmengen. Die Menge der Teilmengen enthält immer mehr Elemente als die Ausgangsmenge selbst.“
„Bis jetzt kann ich folgen.“
„Würdest du ein paar Jahrhunderte leben, könntest du alle Kieselsteine am Strand zählen. Und theoretisch könntest du sie dein Leben lang aneinanderreihen, wenn du ewig leben würdest, aber … immer wird eine Zahl größer sein als die andere.“
„Es gibt also immer eine größere Zahl.“
Ich ließ mir diese Worte auf der Zunge zergehen, sie hatten einen besonderen Geschmack.
„Selbst wenn du bis zum Unendlichen zählen könntest, würde es immer ein größeres Unendliches geben, bis zu dem du weiterzählen könntest. Die Menge der Teilmengen des Unendlichen ist größer als die Menge der Unendlichkeit selbst – so wie die Anzahl der möglichen Zusammenfassungen dieser drei Kiesel größer ist als drei.“
„Das ist ja ein lustiges kleines Spiel mit Bausteinen!“
„Damit du alles Weitere verstehst, muss ich dir den Unterschied zwischen kardinal und ordinal erklären: Mit Kardinalzahlen zählt man die Elemente einer Menge
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