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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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einer ärztlichen Tauglichkeitsuntersuchung für die amerikanische Armee bestellt worden. Frank Aydelotte, Direktor des ISA, sah sich gezwungen, mit einem diplomatischen Schreiben einzugreifen, in dem er angab: „Kurt Gödel ist ein Genie. Leider hat er psychopathische Züge.“ Wir gewannen Zeit, aber wie sollten wir uns von Kurts kargem Honorar als Gastdozent über Wasser halten? Welche Laufbahn wäre ihm mit dem Stempel „psychopathisch“ beschieden? Wir waren nicht willkommen. Gerüchten zufolge bereitete die US-Regierung die Internierung aller Japaner vor, auch jener mit amerikanischer Staatsbürgerschaft. Wann wären die Deutschstämmigen an der Reihe? 6 Noch vor der Kriegserklärung machten wir in New York immer einen Umweg, um nicht am deutschen Konsulat oder einfach nur an einem deutschen Reisebüro vorbeigehen zu müssen. Wir hatten Angst, dass man uns verhaften würde. Die ganze deutsche Gemeinde zitterte auch noch nach ihrer Flucht vom Grauen gepackt und fürchtete um ihre Zukunft auf dem Boden einer Nation, die sich im Krieg gegen ihre Heimat befand. Ich musste Englisch lernen, damit ich nicht mehr von diesen angstmachenden Kreisen abhängig war. Ich schaffte es nicht. Kurt hielt mir vor, mir keine Mühe zu geben. Ich klammerte mich an das Wörtchen „vorübergehend“.
    Auf dieser langen Reise hatte ich solche Angst gehabt und litt immer noch darunter. Im September 1940 hatte ein U-Boot einen Dampfer mit Hunderten englischer Kinder versenkt, die auf dem Weg in die Neue Welt gewesen waren. Die Nazis waren in Paris einmarschiert, sie hatten die Sowjetunion angegriffen, Japan hatte den Pazifik unter Beschuss genommen, alle Wege waren versperrt. Wir waren Ausländer, gefangen in einem riesigen Land. Hier war alles riesengroß, selbst die Leere.
    Kurt erschien die Zukunft wie eine frisch geputzte schwarze Tafel. Seine Vorlesungen in Princeton und danach in Yale waren begeistert aufgenommen worden. Er wirkte enthusiastisch, auch wenn dieses Wort schon lange nicht mehr zu seinem Vokabular gehörte. Er hatte eine Liste der guten Vorsätze aufgestellt. Ich hätte eine Liste seiner Listen aufstellen können: Bücher, die er lesen wollte, Artikel, die er fertig schreiben wollte, bis hin zum Stundenplan seiner Spaziergänge. Er hatte Pläne, Ideen: eine Zukunft.
     
    Ich bestellte Frühstück aufs Zimmer. Missis Frederick kam der Bitte griesgrämig nach. Sie legte auch die Zeitung aufs Tablett – die Schlagzeilen gut sichtbar : Nazis in Kanada! Deutsche U-Boote im Sankt-Lorenz-Strom gesichtet!
    Als ich wieder ins Zimmer kam, saß Kurt noch immer an seinem Arbeitstisch. Er trank den Kaffee in einem Zug, die Toasts schob er weg. Ich ging auf und ab und suchte eine Beschäftigung. Ich verspürte keine Lust zu stricken, noch weniger Lust hatte ich, im Halbdunkel zu lesen. Kurt war von meinem Hin und Her gereizt. Er setzte die Brille ab und putzte sie. Seine Augen waren rot vor lauter Schlafmangel.
    „Gehen wir ans Meer. Du bist wie ein Tier im Käfig. Ich kann mich dabei nicht konzentrieren.“
    Mit dem Korb am Arm tippelte ich schon zur Tür, doch er nahm sich Zeit und packte seine Papiere in den verschließbaren Koffer. Dieses teuflische Hausmütterchen war imstande, darin Geheimbotschaften zu lesen!
    Leise gingen wir hinunter. Aus dem Büro tönte das ewige patriotische Lied We Must Be Vigilant . Jedes Mal wenn wir vorbeikamen, drehte die Wirtin das Radio lauter.
    Später, bei unserer Rückkehr nach Princeton, stellten wir fest, dass der Schlüssel für besagten Koffer fehlte. Kurt schrieb gleich an die gute Missis Frederick und beschuldigte sie, ihn gestohlen zu haben. Wir haben bestimmt ein tolles Andenken bei ihr hinterlassen!
    Wir gingen die Parker Point Road entlang, eine schmale Küstenstraße. Durch die Föhrenwälder sahen wir die wunderschöne Blue Hill Bay, die mit kleinen Inseln gesprenkelt war. Dann bogen wir auf einen Pfad ein, er führte zu einer hübschen kleinen Bucht, die wir bei einem anderen Spaziergang entdeckt hatten. Ich legte eine Molton-Decke auf die Steine. Kurt gefiel dieser kleine Komfort.
    „Es ist zu feucht, um hierzubleiben.“
    „Wir sind am Meer, Kurt! In der Stadt beklagst du dich ständig über die schlechte Heizungsluft.“
    Widerwillig setzte er sich.
    „Wir könnten heute auswärts zu Mittag essen. Ich würde gern einmal den Clam Chowder hier probieren, diese Suppe aus Herzmuscheln.“
    Die Masten von drei Booten, die vor der Küste ankerten, klapperten im Takt der

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