Die Göttin der kleinen Siege
Haarschopf. Meine Güte, er muss schrecklich frieren, der Arme hat ja kaum etwas an!“
Ich blickte auf die Straße und erkannte die mittlerweile legendäre Gestalt des Gelehrten. Mit seinen fünfundsechzig Jahren hatte er noch immer den flotten Schritt eines jungen Mannes. Dass er einen leichten Mantel übergezogen hatte, war zweifellos ein Zugeständnis an seine treue Sekretärin Helen Dukas, allerdings hatte er wie immer vergessen, Socken anzuziehen. Pauli, dessen weiter Mantel die Wohlbeleibtheit des Mittvierzigers betonte, trug den Kopf mit der schütteren Stirn hoch erhoben. Beiden Physikern eilte der Ruf voraus, gute Esser zu sein. Ich hatte vor, sie satt zu machen. Frau Gödels Tafel verließ man nur mit vollem Magen!
„Also musst du jetzt die Fenster schließen. Ich gebe das Soufflé in den Backofen.“
Vor dem Schlafzimmerspiegel blieb ich kurz stehen. Meine Haare waren gewachsen, ich drehte sie ein wenig ein und steckte sie an den Seiten mit Kämmchen hoch. Mein erster großer Erwerb war unter anderem eine Nähmaschine gewesen. Für besondere Anlässe hatte ich mir ein Kleid aus cremeweißem Wollstoff geschneidert, an der Taille war es mit einer langen Reihe kleiner Perlmuttknöpfe gerafft. Die Puffärmel kaschierten die schlaffe Haut an meinen Armen. Ich zog ein wenig an meinen Schläfen. Abgesehen von ein paar Krähenfüßen, hatte ich mich gut gehalten, ich war für mein Alter noch immer attraktiv. Ich zog mein Mieder gerade, überpuderte noch einmal mein Feuermal, zog meine Lippen nach und ließ sie schmatzen. Dieses Geräusch regte Kurt immer auf. Dass er heute Abend auch nörgeln würde, wäre nicht ausgeschlossen. Ich freute mich so, Gäste zu haben! Ich fühlte mich einsam in Princeton, fern meiner Lieben, von denen ich wegen dieses nicht enden wollenden Krieges keine Neuigkeiten hatte. Ich durfte nicht mehr daran denken.
„Sorgen machen Runzeln“, sagte meine Mutter immer. Wie sehr sie in diesen letzten Jahren unter Falten gewelkt sein musste! Mit einer resoluten Bewegung schob ich die Kappe auf den Lippenstift.
Eine halbe Stunde später servierte ich mein zusammengefallenes Soufflé.
„Das ist eine Katastrophe! Es misslingt mir sonst nie.“
Wolfgang Pauli nickte mit seinem hässlichen Schildkrötenkopf, Kurts Mundwinkel hoben sich, und Herr Einstein brach in ein so dröhnendes Lachen aus, dass die Flammen der Kerzen zitterten.
„Dafür können Sie nichts, Adele. Um aufrichtig zu sein, liefern Sie uns damit eine wissenschaftliche Verifizierung – wir haben nämlich gerade über den ‚Pauli-Effekt‘ gesprochen: Allein die Anwesenheit unseres Freundes in einem Labor reicht aus, um jedes Experiment scheitern zu lassen. Und das wirkt sich sogar bis in Ihre Küche aus. Sie hätten sich nicht in die französische organische Chemie stürzen dürfen, gnädige Frau. Bringen Sie mir gute deutsche Hausmannskost!“
„Ich werde Wiener Schnitzel braten.“
„Na, das ist doch ein Wort!“
Kläglich kehrte ich an den Herd zurück – so gern hätte ich einen tollen Eindruck gemacht!
Mit einer riesigen, dampfenden Platte kam ich zurück und sah Einsteins Augen vor Appetit funkeln.
„Sehen Sie sich das an, Pauli – auf die österreichische Küche haben Sie keinen Einfluss!“
Er wartete die Antwort seines jüngeren Kollegen gar nicht ab und stand auf, um mir zu helfen.
„Mein Arzt sagt, ich muss auf meine Ernährung achten. Mein Herz macht langsam Mucken.“
„Meines auch, ich halte streng Diät.“
„Gödel, wenn Sie weiterhin so streng sind, werden Sie noch durchsichtig.“
„Ich dachte, Sie wären Vegetarier, Herr Einstein?“
„Ich weiß die Dame des Hauses zu ehren, Magister Pauli. Ich bin gut erzogen.“
Ich trug den Gästen reichlich auf, dann servierte ich meinem Gatten mit einem verschwörerischen Lächeln sein gekochtes Kalbfleisch.
„Mein Mann schätzt meine Kochkünste nicht.“
„Ich bin älter als Sie, Gödel, tun Sie mir den Gefallen und hören Sie auf Ihre Frau.“
Ohne die Augen zu heben, schnitt Kurt seine karge Kost in winzige Stückchen, die meisten davon würden im Orkus landen.
„Adele bringt mich um mit ihrer Kocherei.“
Die beiden Männer sahen ihn verdutzt an.
„Ein bisschen Krautsalat, meine Herren?“
Ich ließ sie erst die Mägen füllen, bevor ich das Schweigen brach. Ich war begierig auf Komplimente und auf Gespräche – zwei notwendige Nahrungsmittel, die ich seit Jahren vermisste.
„Ich bin sehr geschmeichelt, Herr Einstein,
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