Die Göttin der kleinen Siege
Einstein holte ihn mit einer Lachsalve herunter.
„Wie gern ich Sie provoziere, Wolfgang! Das ist immer eine bereichernde Erfahrung. Seien Sie beruhigt: Sie sind die Zukunft, ich bin Vergangenheit, das weiß jeder. Nehmen Sie noch von diesem herrlichen Krautsalat! Das putzt durch.“
Mein Mann war aschfahl. Die Rivalität der beiden Physiker unter dem Mäntelchen des Spaßes stresste ihn. Ich suchte schnell einen Themenwechsel.
„Wie ist denn Ihr Treffen ausgegangen? Warum hast du Herrn Russell nicht auch eingeladen, Kurt?“
Ich hätte den englischen Lord von aufreizendem Ruf gern kennengelernt. Gerüchten zufolge hatte seine zweite Frau während ihrer Ehe zwei Kinder von ihrem Geliebten bekommen. Russell hatte sich von ihr scheiden lassen und die Gouvernante der Kinder geheiratet. Im Puritanerland USA war er für moralisch ungeeignet befunden worden, Studenten zu unterweisen. Durch seine libertären Auffassungen war er zur Persona non grata geworden. Kurt, dessen Berufung zum Logiker von Russells Hauptschrift Principia mathematica , dem Grundlagenwerk der Logik, genährt worden war, empfand tiefen Respekt vor diesem für seine pazifistischen Überzeugungen geächteten Mann. Man hatte dem Aktivisten gegen den Kriegsdienst während des Ersten Weltkriegs die Professur in Cambridge entzogen, und später hatte er wegen eines Artikels gegen den Kriegseintritt der USA ein halbes Jahr im Gefängnis gesessen.
„Glauben Sie mir, Adele, Russell hätte Ihre österreichische Küche nicht angemessen zu würdigen gewusst. Und wir hätten eine Antiquität zu viel bei Tisch gehabt! Den guten Bertrand scheint die moderne Logik überholt zu haben – so wie auch ich mir von Ihren jungen Kollegen ans Bein gepinkelt fühle. Schenken Sie mir ein, Pauli.“
„Das Kompliment gibt Russell Ihnen zurück, Professor Einstein. Für ihn sind Sie und Gödel platonische Dinosaurier. Nach seinen Worten hätten Sie einen ‚deutschen‘ und ‚jüdischen‘ ‚Hang zur Metaphysik‘.“
„Physik ohne Philosophie ist lediglich Ingenieurswesen. Russells zweifelhafte Bonmots können mich nicht vom Gegenteil überzeugen.“
„Ist Ihr Sohn denn nicht selbst Ingenieur?“
„Wenn Intelligenz erblich wäre, wüsste mein Sohn es. Meine Schwiegertochter begnügt sich mit der Bildhauerei, das ist erholsam. Aber lenken Sie nicht vom Thema ab, Pauli! Ich bestehe darauf: Die Wissenschaft verliert ihre Seele, wenn sie sich von der Philosophie entfernt. Unsere illustersten Entdecker waren Humanisten. Sie hingen nicht der heutigen Dichotomie an – sie waren Physiker, Mathematiker und Philosophen.“
„Erbarmen! Fangen Sie jetzt nicht wieder mit diesem erkenntnistheoretischen Streit an. Sonst muss ich Adele alles erklären. Dazu habe ich keine Kraft.“
„Was definiert ist und was definiert werden kann, ist eng verbunden, sicherlich. Aber für mich übersteigt das, was definiert ist, bei Weitem das, was wir heute definieren können.“
„Wenn das so ist, dürfen Sie nicht infrage stellen, was in der Quantenphysik definiert ist – unter dem Vorwand, man könne es heute nicht in all seiner Umfänglichkeit definieren.“
„Ich sprach von Philosophie. Hören Sie auf, die Decke der Atome ganz zu sich zu ziehen, Pauli! Was sagen Sie dazu, Gödel?“
„Nichts hindert uns daran, in Russells Sinn weiterzumachen. Ich habe durchaus vor, mich dieser Aufgabe als Logiker und als Philosoph zu verschreiben. Ich glaube an eine Axiomatisierung der Philosophie. Diese Disziplin ist heute bestenfalls dort, wo die Mathematik bei den Babyloniern war.“
„Ich erkenne darin Ihre Liebe zu Leibniz. 12 Dennoch – ist das nicht sogar für Sie zu ambitioniert?“
„Mein Leben ist zu kurz für so ein Pensum. Ich denke, dass ich jung sterben werde.“
Einstein bewarf ihn mit einem Brotkügelchen.
„Kommen Sie wieder auf den Boden! Sie werden ein langes Leben und eine fruchtbringende Karriere haben, vor allem wenn Sie den Rat Ihrer charmanten Gattin befolgen: Essen Sie!“
Mit dem Blick in die Ferne gerichtet, stocherte Pauli in seinen Zähnen.
„Genau wie unser sagenhafter Einstein haben auch Sie Ihren Weißen Wal, Gödel: dem einen seine vollständige einheitliche Feldtheorie, dem anderen seine axiomatisierte Philosophie. Damit sind Sie bis zur Emeritierung beschäftigt, liebe Kollegen. Sie dürfen mir gern ein Telegramm schicken, wenn Sie am Ziel sind – ich bringe Ihnen dann Blumen.“
„Sie halten mich für einen alten Knacker. Aber Obacht: Der alte
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