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Die Göttin der kleinen Siege

Die Göttin der kleinen Siege

Titel: Die Göttin der kleinen Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yannick Grannec
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vielmehr um ihn in seiner Abwesenheit zu riechen. Aber er schwitzte nicht. Seine Haut roch kaum, seine Kleider verschmutzten nicht.
    Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, beobachtete er noch immer die Straße.
    „Meine Güte, Kurt! Der Tisch!“
    „Fluch nicht, Adele, und hör auf, dir Stress zu machen! Das ist ja kein Galadinner.“
    Ich streckte seinem Rücken die Zunge heraus. Ich deckte den Tisch und betrachtete ihn – kein Tafelsilber, kein feines Porzellan. Die alte Braut hatte kein Recht auf eine wohlbestückte Mitgifttruhe gehabt.
    Er rührte sich nicht vom Fenster weg.
    „Wo bleiben sie denn? Du hast sie doch auf 18 Uhr eingeladen, oder?“
    „Sie müssen zuerst noch Bertrand Russell 10 vom Bahnhof abholen.“
    „Ich überlege, wann ich das Soufflé in den Ofen schieben soll.“
    „Du hättest ein einfacheres Menü planen sollen.“
    „Albert Einstein kommt zu uns zum Essen! Wie soll ich da etwas Einfacheres kochen?“
    „Er hat einen bodenständigen Geschmack.“
    „Er wird nicht enttäuscht sein – in Anbetracht des mangelnden Komforts in dieser Wohnung!“
    „Hör auf, dich zu beklagen, Adele. Wir wohnen zwei Schritte vom Bahnhof entfernt, sie werden gleich hier sein.“
    „Du und deine Marotte mit Bahnhöfen! Aber nach New York fahren wir nie!“
    „Du kannst allein hinfahren.“
    „Um welches Geld auszugeben? In letzter Zeit ist alles teurer geworden. Ich muss jeden Cent umdrehen, damit ich zurechtkomme.“
    Er hielt sich den Bauch. Ich schluckte meinen Groll, ich wollte, dass dieses Abendessen gelänge.
    „Machst du dir Sorgen?“
    „Einstein zusammen mit Pauli 11 einzuladen war vielleicht keine so kluge Idee. Sie zanken sich immer nur. Relativitätstheorie und Quantenphysik kommen nicht sehr gut miteinander aus. Aber es würde zu weit führen, dir das zu erklären.“
    „Ich mag diesen Pauli sehr. Er ist hässlich, aber so charmant!“
    „Du darfst nicht nach Äußerlichkeiten gehen, Adele. Wolfgang hat einen gefürchteten Verstand. Manche nennen ihn die ‚Geißel Gottes‘. Er macht alle nieder!“
    „Das hat ihn nicht daran gehindert, eine Tänzerin zu heiraten. Wie du. Egal, ob er mittlerweile geschieden ist. Wie Albert. Außerdem ist Pauli Wiener!“
    „Versteige dich nicht in Vertraulichkeit mit Herrn Einstein. Kein Mensch nennt ihn beim Vornamen.“
    Ich war so glücklich, diese Leute, diese so tollen Leute zu Gast zu haben! Bei Herrn Einstein hatte ich keine Angst, schlecht Englisch zu sprechen – er hatte ja selbst einen fürchterlichen Akzent. Ich hatte ihn sogar im Verdacht, dicker aufzutragen als nötig. Ich kannte ihn damals noch nicht so gut, aber ich fühlte mich wohl in seiner Gesellschaft, denn er machte bei seinen Gesprächspartnern keine Statusunterschiede. Er hörte jedem mit demselben Wohlwollen – oder mit derselben amüsierten Gleichgültigkeit – zu, ob es nun die Größen dieser Welt waren oder die Putzfrauen der Universität. Gleich bei unserer Ankunft in Princeton hatten Kurt und er sich angefreundet. Mehr als ein Passant drehte sich auf der Straße um, wenn dieses merkwürdige Paar vorbeikam, und das nicht nur wegen der enormen Popularität des Physikers. Die beiden waren wie Buster Keaton und Groucho Marx, Sonne und Mond, der Schweigsame und der Charismatiker. Mein Mann, wie eh und je mit Brillantine im Haar und tadellos gekleidet, und Albert, der in seinen ramponierten Kleidern immer so aussah, als sei er gerade aufgestanden. Seit dem „Anschluss“ hatte er keinen Friseursalon mehr von innen gesehen. Die Gespräche auf ihren langen Spaziergängen wurden immer wieder unterbrochen vom explosiven Lachen des Physikers und von dem gehemmten Kichern meines Mannes. Einstein schenkte ihm fast väterliche Aufmerksamkeit. Er bewunderte Kurts Arbeiten und freute sich sicherlich, in ihm einen Gefährten gefunden zu haben, der sich von der Aura, die ihn wie einen Halbgott umgab, kaum beeindrucken ließ. Bei Kurt war Albert ein Wissenschaftler wie jeder andere und kein Aushängeschild. Er besaß eine ungeheure Energie und war sensibel für die Labilität meines Mannes. Vielleicht sah er in Kurt ein wenig seinen jüngsten Sohn Eduard, der seit seinem zwanzigsten Lebensjahr in der Vorhölle der Schizophrenie gefangen war. Selbstredend gehörte ich nicht zu Alberts engerem Kreis, aber zu wissen, dass Kurt einer solchen Berühmtheit nahestand, beruhigte mich ein wenig in Bezug auf seine beruflichen Aussichten im Exil.
    „Sie sind da, Adele! Ich sehe schon Einsteins

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