Die Göttin der kleinen Siege
funktionierte.
Selbst jene Männer, die sie angezogen hatte, ohne es zu wollen, wollten sie von der ersten Nacht an an sich fesseln. Der Fluch der Madonna. Sie war sich dieser Macht vollauf bewusst. Sie wagte es nicht, mehr davon zu fordern.
„Ich bin ein sehr langweiliger Mensch.“
„Wenn Sie es wären, würde ich mit Ihnen nicht meine Zeit verschwenden. Sonst noch was? Antworten Sie spontan, ohne nachzudenken.“
„Ich habe gern geschrieben.“
Die Bürste wurde kaum merklich langsamer.
„Das ist belanglos. Eines Tages hat meine Mutter eines meiner Hefte gefunden. Und gelacht.“
„Der Geist der Zerstörung in der Familie ist grenzenlos.“
„Danke, Frau Doktor. Darauf wäre ich ohne Sie nie gekommen.“
Adele streichelte ihr die Wange, Anna überkam eine große Zärtlichkeit, die weit über Mitleid hinausging.
„Mein Mann hat es mir beigebracht, und das Leben hat es mir bestätigt: Ein System kann sich nicht selbst begreifen. Es ist sehr schwierig, sich selbst zu analysieren. Man sieht sich immer nur mit den Augen der anderen.“
„Dass Sie sich einem Urteil unterwerfen, passt gar nicht zu Ihnen.“
„Das indirekte Licht ist manchmal heller. Ich bin vielleicht nicht diejenige, die Sie erleuchten wird, aber ich fange an, Sie zu verstehen. Sie sind ein einfühlsamer, aufmerksamer Mensch und Sie lieben die Wörter.“
„Das reicht nicht, um Karriere zu machen.“
„Ich rede vom Vergnügen. Finden Sie heraus, was Ihnen Freude macht, Anna.“
„Und Ihnen, Adele?“
Die alte Dame warf die Bürste aufs Bett.
„Das Striegeln. Für heute mache ich damit Schluss, mein Fohlen. Meine Arme schmerzen zu sehr.“
28.
1944
Ein atomares Lüftchen
„Einige mir im Manuskript vorliegende neue Arbeiten von
E. Fermi und L. Szilárd lassen mich annehmen, dass das Element Uran in absehbarer Zeit in eine neue wichtige
Energie verwandelt werden könnte. Gewisse Aspekte der Situation scheinen die Aufmerksamkeit der Regierung
und, wenn nötig, rasche Aktion zu erfordern. […]
Das neue Phänomen würde auch zum Bau
von Bomben führen.“
Albert Einstein in einem Brief vom 2. August 1939
an den amerikanischen Präsidenten Roosevelt
„Er ist noch da.“
„Sie werden gleich kommen, Kurt. Mach das Licht wieder an, ich muss den Tisch decken.“
„Sieh selbst!“
Genervt ging ich zum Fenster, neben dem Kurt sich versteckt hatte.
„Gib acht, Adele, er wird dich sehen!“
Ich sah die ruhige Straße hinauf und hinunter. Die Alexander Street war in einem feuchten, dunklen November erstarrt. Ich sah eine einsame Gestalt, die unbekümmert ausschritt – ein Spaziergänger, der in seine Gedanken vertieft war.
„Diesen Mann habe ich heute Morgen schon auf dem Weg zum Institut gesehen. Ich erkenne seinen Hut wieder.“
„Princeton ist klein, Kurt. Es ist ganz normal, dass man denselben Leuten öfter begegnet.“
„Er folgt mir!“
„Mach diese verdammten Fenster zu! Mir wird langsam kalt. Deine Gäste werden schlottern.“
Kurt hatte sich in eine dicke Wollweste gehüllt, die ich selbst gestrickt hatte.
„In dieser Wohnung riecht es so komisch.“
„Jetzt fang nicht wieder damit an! Ich habe den ganzen Tag gelüftet, ich habe Salbei verbrannt. Ich habe gründlichst geputzt. Mehr kann ich nicht tun.“
„Ich rieche die vorigen Bewohner.“
„Du bist überempfindlich. Mach ausnahmsweise mal etwas mit deinen Händen – deck den Tisch und schließ die Fenster!“
Ich ging wieder in die Küche. Ich zitterte trotz des warmen Backofens. Jeden Tag verbrachte ich bei offenen Fenstern und mit den Händen im Waschkessel. Kurt war schon immer krankhaft empfindlich gegenüber Gerüchen gewesen, auch gegenüber Körpergerüchen. Seit wir nach Princeton gezogen waren, hatte sich diese Empfindlichkeit zur Neurose gesteigert. Ich musste mich einer gründlichen Körperreinigung unterziehen, bevor ich zu ihm ins Bett schlüpfte. Schweiß, starke Parfüms oder mein morgendlicher Mundgeruch stießen ihn ab. Wenn ich meine Periode hatte, mied er mich wie die Pest. Natürlich sprach er nicht darüber. Wie hätte er dieses Thema auch anschneiden sollen? Ich hingegen musste mir tagtäglich Berichte über seine Körpertemperatur und die Konsistenz seines Stuhlgangs anhören. Meine eigene innere Maschine interessierte ihn nicht. Jeden Morgen sortierte ich die Wäsche, die gewaschen werden musste, und schnupperte nacheinander an seinen Sachen – weniger um eine unangebrachte weibliche Geruchsspur zu finden, sondern
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