Die Göttin im Stein
abbringen kann, Bruder?« fragte sie.
»Nichts«, erwiderte Ritgo.
Sie nahm seine Hände zwischen ihre. »Mit diesen Händen willst du Menschen töten?«
»Mit diesen Händen will ich Menschen das Leben, die Heimat, den Besitz und die Freiheit retten!«
»Wir sprechen nicht mehr die gleiche Sprache, Ritgo.« »Nein. Aber ich verstehe deine Sprache. Nur du verstehst meine nicht!«
Sie lehnte ihren Kopf an seine Brust. »Ein Teil von mir versteht sie schon. Ein Teil von mir sagt: Es ist nicht Ritgo, der die heilige Ordnung verleugnet, die Söhne des Himmels sind es, die sie zerstören. Sie säen Gewalt, und Ritgo will tun, was er tun muß – ihnen Einhalt gebieten.
Aber der andere Teil in mir schreit: Es kann und darf nicht sein! Niemals darf man einen Menschen töten, es sei denn als geweihtes Opfer für die Große Göttin!
Nichts, das gegen die heilige Ordnung ist, vermag sie zu retten. Und was bedeutet noch unser Leben, wenn die heilige Ordnung tot ist?
Es reißt mich mittendurch.«
Er legte seinen Arm um sie. »Mich auch, Schwester! Mich auch.
Aber ich sehe keinen anderen Weg.
Wir dürfen nicht wie Kinder sein, die die Augen zumachen, damit sie das Dunkel nicht sehen.
Sie ist da, die Gewalt. Mit den Söhnen des Himmels und ihren himmlischen Göttern ist sie zu uns gekommen.« »Deswegen bin ich ja auch für Flucht!«
»Was nützt es, wenn wir alle fliehen?
Die Gewalt wird uns einholen.
Was nützt es, wenn wir unser eigenes Leben retten? Sie wird das unserer Kinder vernichten.
Wenn wir die Söhne des Himmels nicht vertreiben, so werden sie die ganze Welt vergiften! Die heilige Ordnung wird für alle Zeiten sterben, und jeder, der sie bewahren möchte, mit ihr.
Ich habe es erkannt, als ich die Zerstörung in unserem Dorf sah, die Toten. Als ich die Leichen meiner Brüder und Neffen ins Grab trug. Als ich den kleinen Rablu in meinen Armen hielt.
Deine Söhne, Haibe, deine ermordeten Söhne waren es, die mir in die Eingeweide schrien: Tu etwas, damit dies ein Ende hat!
Darum werde ich kämpfen. Darum werde ich töten. Darum führe ich andere Männer an, mit mir zu kämpfen und zu töten. Darum, Haibe!«
»Es wird dich selbst töten. Es wird deinen Leib töten und dein innerstes Wesen, alles das, was du gewesen bist. Und selbst, wenn du überleben solltest, wirst du nicht mehr der sein, der du warst.«
»Mag sein«, stimmte er zu. »Ja, mag wohl sein!«
Lange standen sie aneinandergelehnt. Dann nahm sich Haibe die Bernsteinkette der Mutter vom Hals, die sie nicht mehr abgenommen hatte, seit sie sie im Grab umgelegt hatte. »Hier, Ritgo, nimm die Kette unserer Mutter, und trage sie von jetzt an! Möge sie dich immer erinnern, wo deine Wurzeln sind – und wofür du kämpfst!«
Haibe legte das Bündel Holz ab, kniete nieder, riß einige
Büschel Heidekraut aus, glättete den Waldboden und malte die heiligen Zeichen hinein.
Dann neigte sie den Kopf, bis die Stirn die Zeichen berührte, und betete für ihren Bruder, den einzigen, der noch lebte –vielleicht.
Die alte Priesterin hatte drei Ferkel getötet und unter Gebeten und Gesängen im Schoß der Erde vergraben. Langsam erhob sie sich nun, breitete die Arme aus.
»Gepriesen seist du, Große Göttin, die du uns den Weg in dieses fruchtbare Land gewiesen hast.
Verfolgt waren wir, und du hast uns gerettet.
Heimatlos waren wir, und du hast uns eine neue Heimat gegeben.
Verzweifelt waren wir, und du hast uns getröstet.
Du nimmst uns in deine Arme wie eine Mutter, du nährst uns wie eine Hirschkuh ihr Kalb und schützt uns wie eine Bärin ihr Junges.
Drei Ferkel opfern wir dir, die du Drei bist in Eins und Eins in Drei.
Laß die Fruchtbarkeit der trächtigen Sau die Felder durchdringen, die wir unter den Pflug nehmen wollen!«
Die alte Priesterin ließ die Arme sinken, wandte sich an alle: »Geht schlafen, ihr Lieben! Morgen beginnen wir mit der Rodung der neuen Felder!«
Zirrkan trat neben seine Mutter und erklärte: »Wir müssen mit aller Kraft arbeiten, damit wir die Felder noch rechtzeitig zur Sommersaat bestellen können. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang müssen wir unsere äußersten Anstrengungen vereinen. Gemeinsam kann es uns gelingen.«
Ein einziger Ruf der Zustimmung ging durch die Menge. Die Sippenältesten umringten Zirrkan, besprachen noch einmal die Aufteilung und Planung der Arbeit, während die anderen sich zerstreuten und das Lager für die Nacht herrichteten.
Haibe hörte Fetzen von Frage und Antwort, sah, mit
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