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Die Göttin im Stein

Titel: Die Göttin im Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Beyerlein
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welcher Selbstverständlichkeit Zirrkan um Rat und Weisung gebeten wurde und sie erteilte.
    Vorbei die Zeiten, in denen Zirrkan es als Last und Zumutung empfunden hatte, die Führung übernehmen und Anordnungen treffen zu müssen.
    Eine leise Unruhe bemächtigte sich Haibes.
    Die Veränderung hatte unmerklich begonnen, kaum wahrnehmbar. Nun plötzlich sah sie, was geschehen war.
    Früher waren Entscheidungen von weit geringerer Tragweite mit weit größerer Gründlichkeit und allgemeiner Beteiligung beraten worden. Nichts von Bedeutung, das nicht über Tage hinweg von den Männern in der Männerversammlung und den Frauen bei der Arbeit besprochen und in jeder Familie am Herdfeuer unter allen Erwachsenen beraten worden wäre, ehe Sippenmutter und Sippenältester den Auftrag bekamen, die Meinung der Familie im kleinen Dorfrat zu vertreten, oder ehe in wichtigen Fällen der Allgemeine Dorfrat aller Frauen und Männer zusammentrat und abstimmte.
    Kein Entschluß, an dem nicht alle mitgewirkt, der nicht von allen getragen worden wäre.
    Doch nun waren es mehr und mehr Zirrkan und die Sippenältesten allein, die die Richtung wiesen.
    Das Getreide mußte in den Boden, jeder Augenblick war kostbar, und es blieb keine Zeit für langwierige Beratungen. Wer etwas dagegen einzuwenden hätte, daß Zirrkan mit den Sippenältesten den Plan für die Rodung festlegte, der konnte es sagen.
    Aber alle waren damit zufrieden, Männer wie Frauen –dankbar, daß nicht durch tagelange Gespräche kostbare Zeit verstrich.
    Später, wenn das Leben hier eingerichtet wäre, würden sie zu den alten Bräuchen zurückkehren...
    Haibe ging am Ufer des Sees den Waldrand entlang.
    Sie konnte es vor sich sehen: die Felder als Inseln in den Wald getrieben, die Dörfer in der Nähe des Wassers.
    Bleiben, bis der Wald gerodet ist. Bis die Felder bestellt sind.
    Bis die Häuser gebaut.
    »Nicht schwach werden!« sagte sie laut zu sich selbst. »Du müßtest dich selbst hassen, wenn du jetzt noch einen Tag länger zögern würdest!«
    Und sie sammelte ihre Gedanken und beschwor die Erinnerung an Naki.
    Sie kniete am Mahlstein und zerrieb Weizenschrot, den schlafenden Wirrkon auf den Rücken gebunden. Hin und wieder warf sie einen Blick über die Schulter zurück auf Naki.
    Diese, noch keine zwei Jahre alt, spielte auf dem Dorfplatz mit den anderen Kindern.
    Doch plötzlich lief Naki zu ihr, blieb neben ihr stehen, sah ihr eine Weile beim Mahfen zu und sagte: »Auch!«
    Sie rückte dem Kind den kleinen Mahlstein hin, an dem sie selbst das Mahlen gelernt hatte, drückte ihm den Kiesel als Läuferstein in die Hand, den sie einst von ihrer Mutter erhalten hatte.
    Mit hochroten Wangen, die Zunge zwischen die Zähne geklemmt, mühte das Kind sich, zu mahlen wie sie.
    Eine schmerzhafte Welle von Zärtlichkeit erfaßte sie.
    Und sie spürte wieder den Faden. Weit zurück verband er sie mit den Müttern, aber auch weit vorwärts mit den Kindern und Kindeskindern: ohne Anfang und Ende.
    »Ich werde den Faden weiterspinnen, Naki«, versprach Haibe laut. »Er soll nicht zerreißen zwischen dir und mir. An diesem See sollen deine Kinder spielen, und die Kinder deiner Töchter!
    Morgen früh mache ich mich auf. Ich werde dich unter den Söhnen des Himmels suchen.
    Und ich schwöre beim Andenken meiner Mutter, daß ich nicht ruhen werde, ehe ich dich gefunden und hierher geführt habe!«
     

13
    Die Schale mit dem Met machte die Runde ums Feuer. Lykos nahm sie zum unzähligen Mal in Empfang, tat einen langen Zug und sie weiter.
    Heilige Trunkenheit vereinte ihre Seelen zu einem einzigen Strom, führte sie in die Gemeinschaft mit den Himmlischen.
    Sie hatten das Fleisch des geopferten Stieres gegessen, hatten so an des donnernden Gottes unendlicher Kraft teilgehabt.
    Nun war er gekommen, in Gebeten und Gesängen beschworen: der Augenblick der heiligsten Handlung.
    Zwei Wolfskrieger führten den jungen Schimmel unter die heilige Eiche auf den dichten Teppich herabgefallener Eicheln, den reichen Sinnbildern männlicher Zeugungskraft.
    Die Wolfskrieger hielten den weißen Hengst am Zaumzeug und konnten ihn kaum bändigen. Ungezähmt, nie geritten, nie in die Nähe einer Stute gelassen, von vollendeter, strahlender Schönheit, voll hitziger Wildheit und gefährlich aufbegehrender Kraft.
    Der König trat vor, den schwarzen, weit und überlang hinter ihm herschleppenden Mantel bestickt mit weißen Sternen. In seiner Hand die Axt mit der blitzenden, funkelnden

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