Die Göttin im Stein
Dann wurde der Abschied unabweisbar.
»Kommst du mit mir Brennholz sammeln, Haibe?« riß Corgli sie aus ihren Gedanken. Haibe nickte, dankbar für die Ablenkung, und lief neben der jungen Frau am Zug entlang in den Wald zurück.
Ein Ochsenkarren war vom Weg abgekommen und seitwärts in den Graben gestürzt. Angefeuert von den Zurufen der Schaulustigen, mühten sich einige junge Männer, das schwerfällige Gefährt aus dem Graben zu wuchten.
Der Boden war von der Schneeschmelze und dem Regen aufgeweicht, immer tiefer sank der Karren in den Schlamm, immer wieder rutschten die Männer aus und fielen hin. Sie erleichterten sich die Plackerei, indem sie Witze darüber machten und jedes Mißgeschick mit Lachen beantworteten, am meisten das eigene.
Corglis Bruder zwängte sich zwischen die Ochsen und den Karren, kroch unter die Zuggabel und stemmte sie mit dem Rücken hoch. Die anderen hoben den Karren auf die schweren Scheibenräder. Ein winziges Stück bewegte sich der Wagen aus dem Graben, dann kam er wieder zum Stocken. In diesem Augenblick ließ einer der beiden Ochsen Wasser und bespritzte Corglis Bruder mit einem dichten Strahl.
Dieser schrie auf, zuckte in die Höhe und gab damit dem Karren einen entscheidenden Ruck. Die Ochsen zogen an, Corglis Bruder sprang zur Seite, der Karren fuhr auf den Weg.
Die Zuschauer lachten. »Wie viel Stärke in einem Ochsen steckt! Selbst sein Wasser verheilt noch ungeahnte Kräfte!«
Die Heiterkeit war ansteckend. Jetzt, da das Ziel ihrer weiten Reise greifbar nahe war, fiel mit einem Mal alle Anspannung von ihnen ab.
Corgli kicherte so laut, daß ihr Baby aufwachte und mit großen Augen um sich sah.
»Geh zum Bach, Bruder«, lachte Corgli und wischte sich kleine Tränen aus den Augenwinkeln, »und gib mir deinen Kittel, ich wasch ihn dir!«
Haibe nahm die Fröhlichkeit der anderen in sich auf: Naki, zu diesen Menschen hier werde ich dich bringen, dich und alle anderen! Sie werden euch mit offenen Armen empfangen, als wären sie eure Sippe. Denn all die verschiedenen Menschen, die aus der Heimat geflohen sind, um eine neue Heimat zu finden, sind eine einzige Gemeinschaft geworden, in der auch ihr Platz finden werdet.
Vom Weg ab ging sie zwischen die Bäume und bückte sich nach herabgefallenen Ästen. Das Baby wachte auf und gab leise Unmutslaute von sich. Sie nahm es aus der Schlinge, legte es über die Schulter und nutzte die Schlinge zum Sammeln des Holzes. Das Baby schmatzte und bewegte unruhig den Kopf.
»Ach, Kleines«, sagte sie, »du weißt doch, bei mir findest du nichts zu trinken!«
Das Baby verzog das Gesicht und begann zu weinen.
»Nicht weinen, Dummerchen! Wir beide suchen jetzt Corgli, die hat Milch genug für dich. Für dich ist gesorgt, auch wenn ich nicht mehr bei dir bin. Es wird immer eine dasein, die dich mit sich herumträgt, die dich hätschelt und an die du dich schmiegen kannst!«
Das Baby hatte aufgehört zu weinen, hielt sich an ihrem Zopf fest und hörte ihr aufmerksam zu.
»Ich habe sieben Kinder gehabt. Zwei sind gestorben, als sie noch jünger waren als du. Und meine kleine Tochter in ihrem dritten Sommer. Jetzt sind auch meine drei Söhne tot. Aber meine große Tochter lebt. Ich werde sie finden und zu euch bringen. Wer weiß, wenn ich mit ihr wieder zu dir komme, kannst du vielleicht schon krabbeln! Ich hoffe doch sehr, daß ich nicht so lange wegbleibe, bis du laufen kannst ...«
Haibe langte bei Corgli an. Diese kniete neben dem Bach und wrang eben den Kittel aus. Ihr Bruder stand mit nacktem Oberkörper neben ihr, warf immer wieder ihr Baby in die Höhe und fing es wieder auf. Das Baby lachte laut.
»Dein kleiner Neffe hat Hunger«, meinte Haibe und streckte der jungen Frau Wölais Kind hin.
Corgli nickte und hegte es sich an die Brust.
Corglis Bruder wirbelte seine kleine Nichte durch die Luft. Haibe sah ihm zu. So hatte auch Ritgo mit Naki gespielt, und später mit ihren weiteren Kindern.
Haibe wandte sich ab, sammelte Holz.
Ritgo.
Ihn hatten ihre Kinder verehrt.
Um ein Lächeln der Anerkennung, ein Nicken der Zustimmung von ihm hätten sie jede Anstrengung auf sich genommen.
Auf seine Worte hatten sie mit Vertrauen gehört. Wenn er ihnen die Geschichten erzählt hatte, in denen die heilige Ordnung begründet lag, so hatten sie sich ernsthaft bemüht zu verstehen, was er sie lehrte.
Nun lehrte er nicht mehr die heilige Ordnung.
Nun lehrte er das Töten.
»Gibt es nichts mehr, womit ich dich von deinem Vorhaben
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