Die Göttin im Stein
letzten Schritte rannte Haibe, trat schwer atmend auf die Ackerfläche hinaus.
Dort vorn endlich, nach ungezählten Tagen der Wanderung und Flucht im Wald, nach einsamen Nächten, die sie frierend vor Frost und innerer Kälte im Dickicht verbracht hatte: die Heiligen Steine.
Sie stand und schaute. Und spürte: Sie war heimgekehrt. Mochte ringsum die Welt aus den Fugen geraten und dem Untergang verfallen sein – ihr Mittelpunkt war unversehrt. Noch galt die heilige Ordnung, der ewige Bund der Urfrauen. Für alle Zeit wandelten die Steine zwischen den Gräbern und vereinten das, was getrennt gewesen war.
Haibe kniete nieder, drückte die Stirn auf das Erdreich, küßte den Boden. Einst hatte Naki hier an ihrer Seite gekniet ...
Langsam erhob Haibe sich und ging weiter auf die steinerne Prozession der Ahnen zwischen den beiden großen Gräbern zu.
Hier hatte sie sich mit Gwinne, Mulai und all den anderen verabredet, hier hatten diese nach Eire Ausschau halten und zum Aufbruch in die neue Heimat auf Haibe warten wollen. Und auf Naki.
Ein Rauschen in der Ulme am Wegesrand, und in einem Wirbel fallender Blätter sprang ein Mann mit einem gewaltigen Satz aus dem Baum, stand breitbeinig dicht vor ihr.
Haibe schrie erschreckt auf – und lag im nächsten Augenblick an der Brust ihres Bruders..
»Ritgo, hast du mich erschreckt! Daß du hier bist ...«
Er klopfte beruhigend auf ihren Rücken, sprach nur ein Wort: »Naki?«
Sie schüttelte den Kopf. Und dann brach es aus ihr heraus: »Du mußt ihn töten, diesen Lykos!«
Ritgo schob sie von sich und lachte rauh: »Lykos? Den, der sich mit seiner Wolfsschar mir auf die Fersen geheftet hat, vor dem mich jeder, der mir Nachrichten zuträgt, warnt, dem ich so sorgfältig aus dem Weg gehe wie keinem sonst – ausgerechnet den soll ich töten? Weißt du nichts Leichteres für mich?«
»Ritgo, es ist die einzige Rettung, die es für Naki gibt, sie ist ihm ausgeliefert, solange er lebt, kann sie nicht von ihm los, sie ist durch einen Eid gebunden, keine Macht der Erde kann sie bewegen, diesen Eid zu brechen, ich jedenfalls konnte es nicht, o Ritgo, wenn dieser Lykos den Krieg überlebt, dann ist sie verloren, hilf ihr, bitte, hilf ihr!«
»Und helfen ist töten, sieh mal einer an!«
Sie schwieg.
Ritgo nahm ihre Hand, zog sie ins Gebüsch, drückte sie nieder. »Erzähl!« sagte er.
Sie erzählte ihm alles. Er zerbrach seinen Eibenholzstock, während er zuhörte. Schrie: »Konntest du sie nicht mit Gewalt mit dir nehmen, den kleinen Wirrkon entführen, dann wäre sie dir schon gefolgt?!«, verstummte wieder unter ihrem Blick, vergrub das Gesicht in den Händen.
»Sie ist zu gut für diese Welt«, murmelte er schließlich, »zu arglos, zu aufrichtig, zu treu. Und zu gläubig. So kann man nicht mehr leben. So kann man nur noch sterben.«
»Wofür kämpfst du, wenn nicht für eine Welt, in der man wieder so leben kann?«
Ritgo stand auf. »Manchmal bin ich nicht mehr sicher, ob ich noch weiß, wofür ich kämpfe. Aber wogegen, das weiß ich.
Ich werde versuchen diesen Lykos zu töten. Aber ich muß vor ihm auf der Hut sein, sonst gefährde ich damit unseren ganzen Kampf. Den richtigen Ort, den richtigen Augenblick
Solange er im Krieg ist, droht Naki doch kein Unheil?«
»Nein. Solange nicht. Und noch etwas. Ich habe ihr gesagt, daß ich in einem Jahr wieder bei ihr sein werde, im nächsten Herbst. Falls sie bis dahin frei ist, werde ich sie dann in die neue Heimat geleiten, so wie jetzt die anderen.«
Ritgo strich sein Kinn. »Ein Jahr ist eine lange Zeit in einem Krieg wie diesem. Ob wir so lange durchhalten – wer weiß.«
»Ich habe Bauern bei den Söhnen des Himmels kennkennengelernt, denen ich dir ausrichten soll, daß sie bereit sind, mit dir zusammenzuarbeiten, dich zu unterstützen. Sie warten darauf, daß du zu ihnen kommst. Ihre ganze Hoffnung gilt dem Bernsteinbären.«
»Wo soll ich denn noch überall sein! An unzähligen Orten zugleich wird nach mir verlangt, erhofft man sich WundWunderdinge mir, die ich nie erbringen kann. Was glauben die Leute, wer ich sei?!« Er brach ab, streckte ihr die Hand hin: »Komm mit in den Wald dort, da halten sich die Frauen versteckt! Stell dir vor, wir sind hier auf Eire gestoßen. Sie hat es geschafft, sich zu retten, sich und ihre kleine Tochter. Aber was sie mir von sich und Songo erzählt hat ...«
Er verstummte.
»Ich weiß«, erwiderte Haibe und drückte seine Hand. »Aber daß Eire sich mit dem Kind hierher
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