Die Göttin im Stein
Holunders, dessen Trauben die Körbe füllten. Glitzernde Spinnweben zwischen Reetdach und Hauswand.
Das Leben wiedergewonnen.
Moria stand auf, ging langsam über den Hof, streichelte den Hund, lehnte sich an den Stamm der Eiche, blickte durch das leuchtende Blätterdach in die Sonne, bis die Augen nichts mehr sahen, und kehrte zur Bank zurück.
Schon von diesen wenigen Schritten war sie ermüdet, doch von Tag zu Tag spürte sie ein klein wenig von ihren Kräften zurückkehren.
Nicht mehr lang, und sie würde Naki zum Bach begleiten können, wenn diese die Kinder badete.
Wo Naki nur blieb! So lang war sie doch sonst nicht am Bach?
Plötzlich sehnte sie sich danach, Ria in die Arme schließen zu können und ihren kleinen Körper zu spüren, noch frisch vom Bad –
Sie hörte das Knarren des Hoftores, wandte sich hin – nur Sahir.
Moria schloß die Augen. Rot schimmerte es durch die geschlossenen Lider. Wärme auf ihrem Gesicht.
Fast wie von Nakis Händen.
Die Hände dieser Magd – wertvoller als Gold.
Oder sind es nicht die Hände? Ist es das andere, die Göttin?
Der Stein mit den glitzernden Augen –
Träge flossen die Gedanken, schoben sich ineinander und versickerten.
Als Moria wieder aufwachte, war die Sonne weitergewandert. Fröstelnd rieb Moria die Arme und sah sich um.
Sahir hockte am Boden und zupfte Holunderbeeren von den Stielen.
»Wo ist Naki mit den Kindern?« fragte Moria.
»Ich weiß nicht, Herrin, hier am Hof ist sie nicht.« »Ist sie etwa noch am Bach?«
»Vielleicht. Vorhin war sie dort mit den Kindern. Und mit einer fremden Frau.«
»Was für eine fremde Frau?«
»Ich kenne sie nicht, Herrin, keine von hier. Aber Naki schien sich sehr zu freuen. Sie haben sich umarmt und geküßt. Sehr glücklich sahen sie beide aus. Und ich habe sie in der alten Sprache reden hören.«
»In der alten Sprache?« Kalt und naß klebte das Hemd am Leib. »Hast du den Namen der Fremden gehört?«
»Ach, Herrin, ich verstehe doch die Sprache nicht, nur ein Wort hab' ich Naki immer wieder zu der Fremden sagen hören, es klang so ähnlich wie –«
Sie nannte das Wort.
Wai hatte mit Moria immer in der Sprache der Söhne des Himmels geredet. Doch dieses eine Wort aus der Sprache des Alten Volkes hatte Moria sich dennoch eingeprägt.
Das Wort, mit dem Wai ihre Mutter anzusprechen pflegte. Das Wort, das nun Sahir genannt hatte.
Aber Naki hat selbst erzählt, daß ihre Mutter tot ist!
Und wenn das nicht stimmt? Wenn sie gekommen ist, ihre Tochter zu holen? Naki – und Wirrkon?!
Naki hat geschworen, nicht mit Wirrkon zu fliehen. Sie hat mein Vertrauen mehr als verdient.
Dennoch: Sie müßte längst zurücksein.
Unruhig stand Moria auf. Ging zum Hoftor. Sah den Weg hinab.
Keine Naki.
Wenn sie bis zu der Brombeerhecke ginge, könnte sie zum Bach hinuntersehen.
Sie lief.
Kam an der Brombeerhecke an. Sah den Bach, die Stelle, an der gewöhnlich Wasser geholt, gewaschen und gebadet wurde.
Kein Mensch zu sehen.
»Naki!« rief sie, kein Halten mehr, sie rannte, keuchte, taumelte, schrie, niemand hörte sie, ihr Schrei zu atemlos, ohne Kraft.
Am Bach hingen Windeln zum Trocknen im Weidenstrauch.
Moria griff danach, Rias Windeln, strauchelte, ihre Knie so schwach, in ihren Ohren brauste ein höhnischer Wind, schwarz wurde ihr vor Augen. Sie fiel.
Es war Nakis Mutter, ich weiß es. Naki ist mit ihr gegangen. Das einzige, was sie hier halten könnte, hat sie mitgenommen: ihr Kind. Und meines, das sie liebt wie ihr eigenes.
Ihr zornigen Götter, macht ein Ende. Ich will nicht mehr leben.
Nicht ohne Ria.
Und Wirrkon – du bürgst mir für ihn –
Moorboden unter ihr. Sie sank und sank und sank.
Als sie wieder zu sich kam, wurde sie getragen. Laßt mich, ich will nicht mehr.
Die Schwärze nahm sie wieder auf.
Jemand spritzte ihr kaltes Wasser ins Gesicht. »Nun wach endlich auf!« sagte eine zornige Stimme. »Oder meinst du, wir haben uns die ganze Mühe mit dir nur gemacht, damit du uns jetzt wegstirbst?!«
Widerwillig öffnete sie die Augen.
Cythia. Und neben ihr noch jemand.
Naki – im einen Arm Wirrkon, im anderen Ria.
Große Frau. Deine Güte ist ohne Grenzen. Bei dir hat Naki geschworen. Und bei dir hält sie ihren Schwur.
Ich werde nie aufhören, dir zu danken.
Und ich habe geglaubt, du liebst uns! »Mutter« habe ich dich genannt!
Überall, meinte ich, wärst du. Im Blühen der Blumen und im Reifen des Kornes, im Flug des Vogels und im Lachen eines Kindes, im Murmeln des
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