Die Göttin im Stein
ich sie nur noch stumm in die Arme schließen.
Göttin, wenn es dich noch gibt, wenn dich die furchtbaren Götter der Söhne des Himmels nicht längst zertreten haben, dich jeder Stärke und jeden Lebens beraubt, dann bist du ein Ungeheuer.
Dann bist du keine säugende Hirschkuh mehr und keine Bärin, die ihr Junges schützt. Dann wendest du uns nur noch das starre Gesicht der Weißen Frau zu, zeigst uns die drohenden Hauer des reißenden Keilers, rufst uns mit dem Schrei der Eule.
So soll er denn hallen, der Schrei der Eule!
Ich fluche ihn herab auf den Wolfsmenschen. Ich fluche ihn herab auf diesen ganzen Hof, der meine Tochter gefangenhält. Ich fluche ihn herab auf alles und jedes, das meine Tochter und ihren Sohn hindert, frei zu sein!
Tod dem Lykos, seinen Helfern und Helfershelfern! Tod einem jeden, der Naki und Wirrkon an ihren Kerker fesselt! Hörst du mich, Eule?
Ich kann meine Tochter und meinen Enkel nicht retten. Nur du kannst es noch.
Dort der Weidenbusch am Bach, dort hat meine Mutter gewartet. Dort hat sie nach mir gerufen.
Ich kann ihn nicht mehr sehen, ohne zu hoffen, daß meine Mutter heraustritt. Ohne mich nach ihren Armen zu sehnen, in die ich mich flüchten kann ...
Wärest du nie hierhergekommen, Mutter!
Wenn du schon nicht an dich denkst, so denke wenigstens an Wirrkon, willst du, daß seine Seele geschunden wird so grausam wie sein Körper ...
Das hättest du nicht sagen dürfen, Mutter, das nicht!
Hätte ich damals Wirrkon im Stich gelassen, so hätte ich ihn jetzt retten können –
Es ist nicht wahr! Die Göttin hat es so gewollt!
Sie wird es nicht zulassen, die Große Bärin, daß Wirrkon etwas geschieht, Sie wird ihn verteidigen mit Pranken und Reißzähnen, und wenn ich ihm nicht helfen kann, so wird Sie es tun, wie die Hirschkuh ihr Junges säugt, so wird Sie für ihn sorgen.
Wie verzweifelt er weinte, eingeschnürt in diese schrecklichen Bänder. Und wie er mit tiefem Seufzen still wurde an meiner Brust.
Da wußte ich, daß es richtig war, was ich getan hatte. Ich mußte es tun. Es war der Ratschluß der Göttin.
Sie hätte mich nicht schwören lassen, wenn Sie es nicht so gewollt hätte. Und ich hab' Ihr mein Leben geweiht.
Wenn ich dich je verrate, so soll mir in alle Ewigkeit die Rückkehr zu dir verwehrt sein. Ausgestoßen soll ich sein von den Lebenden und den Toten ...
Meine Bestimmung. Der Sinn meines Lebens.
Die kleine Ria. Sie wäre gestorben ohne mich. Und sie würde auch jetzt noch sterben ohne mich. Ich bin das Werkzeug in den Händen der Einen, die da Eins ist in Drei und Drei in Eins.
Ich mußte dich wegschicken, Mutter, damit du die anderen in die neue Heimat führst, nicht Wirrkon und mich.
Du weißt es ja selbst.
Die Göttin wird nicht erlauben, daß Wirrkon zugrunde gehen muß dafür, daß Ria lebt, Mutter, da kannst du sagen, was du willst!
In einem Jahr kommst du wieder, hast du versprochen. Es könne doch sein, daß Lykos in diesem Krieg ums Leben käme. Daß Wirrkon dann frei wäre und mit ihm ich.
Die Herrin würde mich von dem Eid lösen. Sie würde mich mit Wirrkon gehen lassen, wenn sie nicht Lykos fürchten müßte.
Und auch Ria wäre in einem Jahr groß genug, um ohne mich zu überleben.
In einem Jahr –
Naki ließ sich an dem Baum hinabgleiten, lehnte Rücken und Kopf dagegen, schloß die Augen.
In einem Jahr –
Seltsam, sie konnte es nicht denken.
Früher, als junges Mädchen daheim, da lag die Zukunft vor ihr wie eine weite offene Ebene, in die sie hineingehen konnte, sich darin umsehen, Wege erproben, wieder umkehren.
Jetzt reichte die Zukunft nicht weiter als bis zu diesem Tag. Ein kleiner heller Fleck: Wirrkon und Ria, Daire und Lele, die Herrin, Noedia, Sahir und Cythia. Und vor allem Irrkru. Dahinter Dickicht und finsterer, undurchdringlicher Wald.
Kein morgen. Nirgends.
Stille um sie.
Schwärze.
Erde, die sich an sie schmiegte wie weiches, kühles Moos.
Sie schlief, und zugleich sah sie sich schlafen, sah sich zusammengerollt auf der Seite liegen, wie ein ungeborenes Kind im Mutterschoß, wie ein Korn im Boden.
Vollkommene Ruhe. Kein Schmerz und kein Wunsch. Und dann etwas, das wuchs, das größer und größer wurde. Sonne.
Ein wogendes Weizenfeld.
Das jubelnde Lied einer Lerche.
Naki runzelte die Stirn, öffnete verwirrt die Augen. Vogelfrau, warum schickst du mir Träume und Bilder – und gibst mir keinen, der mich lehrt sie zu lesen!
18
Dreimal rief der Eichelhäher.
Der Wald lichtete sich. Die
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