Die Göttin im Stein
trächtige Sau, ewig fruchtbare Mutter, die du das Leben schützt, spendest und erhältst, dich bete ich an. Dich rufe ich um Beistand an, ewige Quelle des Lebens.
Unsere Quellen sind versiegt
–
»Mutter, komm mit!« Naki stürzte zur Tür herein.
»Was ist?« fragte sie die Tochter, vom Backtrog aufsehend.
Naki schüttelte den Kopf. »Das mußt du selbst sehn!« Schon war die Tochter wieder draußen, rannte über den Dorfplatz, drehte sich ungeduldig nach ihr um.
Sie eilte Naki hinterher, auf dem Weg durch die verdorrten Äcker zum Bach. Sie ahnte, was die Tochter ihr zeigen wollte. Als sie es sah, war ihr dennoch, als legten sich Hände um ihre Kehle.
Der Bach hatte von Tag zu Tag weniger Wasser geführt. Nun war er gänzlich ausgetrocknet.
»Warum?« flüsterte Naki.
Sie selbst schüttelte nur den Kopf, sehr müde auf einmal. »Das war doch noch nie da!«
»O doch, erinnerst du dich nicht, Naki, du warst noch ein
Kind, in dem Sommer, als Zirrkans Dorf überfallen wurde–acht Sommer ist das nun her, da ist der Bach auch versiegt ...«
Sie redete und redete. Und konnte doch das Erschrecken nicht übertönen.
Haibe lehnte die Stirn an den Stein. »Was haben wir falsch gemacht, Große Göttin? Warum säugst du uns nicht mehr wie eine Hirschkuh ihr Kalb und schützt uns nicht mehr wie eine Bärin ihr Junges? Warum erlahmt deine Kraft? Warum ziehst du deinen Segen von uns ab? Läßt uns vergebens um Regen flehen?
Haben wir nicht den Tanz der Erneuerung getanzt wie jedes Jahr? Gesungen, gebetet und geopfert wie jedes Jahr?
Du bist doch unsere Mutter ...
Willst du uns zeigen, daß wir keine Säuglinge mehr sind, die kaum einen halben Laut von sich geben müssen, um schon gehätschelt zu werden?
Nun gut, wir sind keine Säuglinge mehr. Aber doch deine Kinder!
Eine Mutter lehrt ihre älteren Kinder Verzicht. Aber sie läßt sie nicht hungern! Sie läßt sie warten. Aber nicht verzweifeln!
Wir sind verzweifelt. Darum bin ich hier. Darum suche ich in deinem Leib den Rat meiner Mütter und Ahnen.
Wenn unsere Bitten dich nicht erweichen, mögen es die ihren tun! Wenn unsere Ohren deine Stimme nicht hören, mögen es die ihren tun! Wenn wir nicht wissen, was wir tun sollen, mögen sie es uns sagen!«
Haibe kehrte zu der kleinen Flamme zurück, stieg dabei über Knochen, Scherben und Tontöpfe, kauerte nieder und verband sich den Finger mit ihrem Webgürtel.
Was jetzt blieb, war warten.
Das kleine Licht flackerte. Plötzlich ertrug sie es nicht mehr, dies Flackern zu sehen und nicht zu wissen, wann die Flamme erlöschen würde. Sie beugte sich vor und blies sie aus.
Abgrundtiefe Finsternis. Eine Finsternis, aus der es kein Entrinnen gab, vier lange Tage.
Die Luft wurde ihr knapp. Als würden die Steine sich auf ihre Brust senken.
Was, wenn sie eine Aufgabe übernommen hatte, der sie nicht gewachsen war? Dies war ein Weg, den sonst nur Berufene gingen: Priesterinnen, Heiler ...
Kein Lebender, der ihr beistehen würde bei dem, was vor ihr lag. Kein Lebender, der helfen würde, wenn die Furcht über sie kam.
Und die Toten?
Haibes Atem ging schneller.
Zu wissen, daß sie um sie herum waren ...
Haibe schloß die Augen, legte die Fingerspitzen an die Schläfen. Versinke nicht in der Raserei der Furcht, hatte Lüre sie gewarnt.
Die Hitze flimmerte über dem Boden. Zwischen dem dürren Schilf stand die heiße Luft. Der Sumpf war ausgetrocknet.
Ihre Füße brannten. So weit wie heute war der Weg zu den Heiligen Steinen noch nie.
Sie erreichten das Ufer des Flusses.
Sand und rissiger Schlick, wo sonst das Wasser glänzte. Nur ein schmales Rinnsal schlängelte sich noch zwischen den Steinen hindurch, die gewöhnlich die Furt gangbar machten.
»Warum läßt die Große Göttin das zu?« sagte Naki.
»Das frag die alte Priesterin«, wehrte sie ab. Es tat ihr leid, wie harsch ihre Worte klangen.
Schweigend durchquerten sie das Flußbett, wuschen sich im Rinnsal und stiegen die jenseitige Böschung hinauf.
»Mutter«, fragte Naki, »war auch das schon einmal da: daß
der
Fluß ausgetrocknet ist?«
»Nein. Nicht, solange ich weiß. Selbst während der Dürre vor acht Jahren – als das Unglück der trockenen Frühjahre und Sommer seinen Anfang nahm – ist der Fluß nicht versiegt.«
Jetzt versiegt er. Wie lange wird es noch dauern, bis er gar kein Wasser mehr führt? Und was dann?
Die alte Priesterin wird die Antwort wissen. Sie muß sie wissen!
Die Sonne ging unter, als sie zu den Heiligen Steinen
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